London-Die britische Hauptstadt im April und das immer gleiche Ritual. An den letzten Verhandlungstagen des gegen ihn angestrengten Strafprozesses war Tennisheld Boris Becker stets flankiert von seiner jungen Freundin und seinem Sohn Noah zum Gerichtsgebäude gekommen. Der Angeklagte Becker schlug auf im hellgrauen Wollmantel, trug um den Hals einen locker geknoteten Wollschal gegen rauen Wind und unterkühltes Klima, die weltberühmten Beine steckten in einer dunklen Anzughose, mit einer Hand zog er entschlossen einen Rollkoffer. Seine in modernen Klassikern stilbewusst und apart auftretende Lebensgefährtin Lilian de Carvalho Monteiro zeigte sich mal in Schwarzweißkariertem, mal in einem sandfarbenen Blazermantel über hochgeschlossenem Little Black Dress, trug Stilettos und die Birkin von Hermès. Der 28-jährige Noah Becker kam im lässigen, anthrazitgrauen Oversize-Suit und wie sein Vater mit weißem Hemd, beide Herren ohne Krawatte.
Der Würde des Gerichts Tribut zollend, aber nicht anbiedernd. Hier hatte kein Sportler in Jogginghose die Kontrolle über sein Leben verloren, hier schritt eine Patchworkfamilie in „Smart-Casual Business“ ins Gerichtsgebäude. Der Besitzer eines Clubs oder Nobelrestaurants, hätte man denken können. Oder ein Start-up-Unternehmer vielleicht, ein Lebemann, der viele Erfolge gehabt, sie sichtlich ausgekostet und oft auch wieder verloren hatte. Auserzählt ist Beckers Geschichte mit dem nun ergangenen Urteil gleichwohl nicht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, seine Anwälte könnten in Berufung gehen. Womöglich plant das Sportidol sogar eine Dokumentation dieses Lebenskapitels, das viele als tragisch empfinden: Fotografen sollen ihn vor ein paar Tagen abgelichtet haben, als er das Büro eines Filmemachers verließ. Vielleicht gedenkt der Weltstar, das Urteil wenigstens teilweise in Profit umzuwandeln: Vorteil Becker? Das Tennis-Ass wäre nicht der (oder die) einzige Verurteilte, der einen Schuldspruch nachträglich zumindest finanziell in eine Art Matchball verwandelt. Immer häufiger wird ein Gerichtsprozess zu einer Bühne, auf der eine neue Erzählung ihren medienwirksamen Anfang nimmt.
Historischer Prozess in Moabit
Der Becker-Prozess lenkte den öffentlichen Blick auf ein modisches Thema der besonderen Art, den Auftritt und die Garderobe vor Gericht: „Courtroom Fashion“. Der Begriff ist neu, die Sache nicht. In einer jetzt erschienenen Autobiografie aus dem Jahre 1934 etwa spielt die Frage der richtigen Kleidung im Gerichtssaal bereits eine Rolle: Rosie Gräfenberg, die Autorin der Autobiografie „Vorspiel zur Vergangenheit“, wurde 1931, mit Anfang dreißig, als Gattin des Berliner Verlagsmoguls Franz Ullstein der Spionage verdächtigt und in einen aufsehenerregenden Prozess verwickelt. Ihr Anwalt, Strafverteidiger Max Alsberg, war einer der bedeutendsten Juristen des Landes, ihr sachdienliches Auftreten in Moabit genau durchdacht. Was würde sie tragen beim Verhör? Der März war kalt und so dachte sie: „Meinen Zobel.“ Nein, sie müsse „etwas sehr Schlichtes und Jugendliches tragen“, riet man ihr. „Ein schwarzes Kostüm?“ – „Ja, ein schwarzes Kostüm.“ Also erschien die junge Verlegergattin ähnlich wie Marlene Dietrich in „Zeugin der Anklage“: schlicht und schwarz und umflort von einem Hauch Diva.
Die 1898 in Mannheim geborene Tochter eines jüdischen Privatbankiers und weitgereiste Autorin begegnete etlichen Größen aus Kultur, Politik und Gesellschaft, darunter Vicki Baum, Erich Maria Remarque und Carl Zuckmayer. Auch die berühmte Berliner Gesellschaftsfotografin Madame d’Ora gehörte dazu. Von ihr ließ Rosie Gräfenberg sich im besagten Marlene-Dietrich-Look – weißes Hemd, schwarzer Blazer, schwarzer Hut – ablichten. Derselbe strenge, zurückgenommene Stil, der ihre Aufmachung im Gerichtsaal in Berlin kennzeichnete, prägt auch das Porträt, das sie für die Illustration ihrer Autobiografie wählte, die jetzt erstmals auf Deutsch erscheint.

Erst seit ein paar Jahren aber spricht man, geht es um die sorgsam durchdachten (oder so wirkenden) Styles prominenter Angeklagter vor Gericht, von einem eigenen Subgenre der Mode. In Berlin sorgten so jüngst beispielsweise die Outfits einiger Beteiligter im Bushido-Prozess für Gesprächsstoff. Insbesondere Arafat Abou-Chaker glänzte mit den Schriftzügen großer Marken auf Hoody oder Shirt: Gucci, Off-White, Saint-Laurent, Balenciaga. Vor allem aber schärfte die glamouröse Hochstaplerin Anna Sorokin den Blick für das Genre. Sorokin ist eine Mittzwanzigerin, die als vorgebliche deutsch-russische Milliardenerbin Anna Delvey Mitte der Zehnerjahre die New Yorker Society narrte, nacherzählt in der Verfilmung ihrer Story, der True-Crime-Serie „Inventing Anna“ auf Netflix. Als die heute 31-Jährige aufgeflogen war und 2019 vor Gericht gestellt wurde, engagierte sie eine namhafte Stylistin. Nicht im Büßergewand, sondern wie ein Unschuldsengel trat Sorokin in einem zarten weißen Kleid und mädchenhaften Ballerinas auf. Ihre übergroße dunkle Nerd-Brille von Celine gab ihrer femininen Anmut etwas Cooles, Kantiges und Intellektuelles und strafte ihre chiffonweiße Weste Lügen: Da war jemand nicht nur lieblich und wollte es auch gar nicht sein.

Putzen in Couture
Wiederholt stand auch das für Kontrollverluste berüchtigte Topmodel Naomi Campbell vor Gericht und wählte dafür eine meist artige, beinahe besänftigend wirkende Garderobe. Zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, wusste die schlagkräftige Britin die Sozialstunden in einen Model-Job umzumünzen, indem sie bei der Straßenfege-Maßnahme Designerkleidung zur Schau trug: Putzen in Couture, abgelichtet für eine weltweit abgedruckte Fotostrecke. Vorgeführt wurde aber nicht Campbell, sondern Justitia. Ist der inszenierte Auftritt vor Gericht ein performativer Akt, ist „Courtroom Fashion“ das Gewand dafür. Als ein optisches Zünglein an der Waage unterstreicht seriöse Montur den Eindruck von Rechtschaffenheit und Respekt vor dem Gericht. Denn vor Gericht gelten ähnliche Dresscodes wie für ein Bewerbungsgespräch. Werden diese ignoriert oder konterkariert, wird es spannend.




