Wenn das so weitergeht mit Harry Kane, wird er eines Tages als „Der Titellose“ in die Geschichte des englischen Fußballs eingehen. Als derjenige, der in Nationalmannschaft und Verein alle Torrekorde gebrochen hat, aber letztendlich damit klarkommen muss, dass er nie eine der ganz wichtigen Trophäen des Weltfußballs in seinen Händen halten durfte.
Am Sonnabend waren nach dem Viertelfinale gegen die Franzosen jedenfalls sogleich jede Menge Kameras auf Kane gerichtet, bis Keeper Jordan Pickford dazwischenging und mit Wort und eindeutiger Geste darum bat, den Teamkollegen in seiner Trauer doch bitte allein zu lassen. Kane war nach Schlusspfiff sogleich in die Knie gegangen, verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen. Der Kapitän war zu Tode betrübt, weil er sich für die 1:2-Niederlage und das Aus der Three Lions verantwortlich fühlte.
Upamecanos Foul bleibt ohne Konsequenzen
Er, der zuvor der Beste unter sehr viel guten Engländern war, den mitunter fahrigen Franzosen wiederholt große Probleme bereitet hatte. Im Besonderen Dayot Upamecano, der ihn in der ersten Hälfte elfmeterreif, allerdings ohne Konsequenzen gefoult hatte. Er, der in der 54. Minute gegen Keeper Hugo Lloris, mit dem er seit neuneinhalb Jahren bei Tottenham Hotspur zusammenspielt, ganz sicher einen Strafstoß verwandelt und auch nach dem 1:2 durch Olivier Giroud in der 78. Minute unverdrossen den Glaubensstifter gegeben hatte. Aber da war eben diese eine Szene in der 84. Minute, die in Erinnerung bleiben wird.
Theo Hernández hatte Mason Mount im Strafraum per törichtem Rempler zu Fall gebracht, der unsichere Schiedsrichter Wilton Sampaio erst auf Hinweis des VAR erneut auf Strafstoß entschieden. Kane hätte also zum Ausgleich treffen und zumindest eine Verlängerung erzwingen können, jagte den Ball aber zu seinem eigenen Entsetzen über die Querlatte. Zwölf Minuten später war die Sache erledigt, England ein gescheitertes Team, Frankreich hingegen ein Halbfinalist.
Erneut hatte der Traum der Engländer von einem ersten großen Titel seit der Weltmeisterschaft 1966 also infolge eines verschossenen Elfmeters ein jähes Ende erfahren. Nicht im Rahmen eines Elfmeterschießens wie beispielsweise 1996 beim EM-Halbfinale gegen Deutschland oder wie im vergangenen Jahr im EM-Finale gegen Italien, und doch erweiterte Kane das nicht enden wollende Trauerspiel der Engländer vom scheinbar verhexten Punkt um ein weiteres Kapitel.
Rückendeckung von Jordan Henderson
Nachdem er sich einigermaßen gefangen hatte, schrieb er bei Twitter: „Absolut niedergeschlagen. Es lag an einem kleinen Detail, für das ich Verantwortung übernehme. Es gibt kein Verstecken und es wird Zeit brauchen, das zu verarbeiten.“ Parallel dazu erfuhr er Unterstützung aus dem Kreis des Nationalteams. Von Mittelfeldspieler Jordan Henderson beispielsweise, der betonte, dass man ohne Kane doch gar nicht so weit gekommen wäre.
Und natürlich auch von Trainer Gareth Southgate, der ja selbst 1996 beim soeben erwähnten EM-Halbfinale zu den englischen Fehlschützen gezählt hatte. Southgate sagte: „Wir gewinnen als Mannschaft und wir verlieren als Mannschaft. Er ist der beste Schütze.“ Wenn er morgen erneut entscheiden müsste, würde er keine Sekunde zögern und Kane wieder schießen lassen.
Southgate braucht Zeit, um über seine Zukunft zu entscheiden
Wobei noch nicht klar ist, ob der 52-Jährige tatsächlich im Amt bleibt. „Ich brauche Zeit, um korrekte Entscheidungen zu treffen. Es ist sehr emotional. Du hast so viele unterschiedliche Gefühle bei so einer WM. Es kostet so viel Energie, enorm viel Energie“, antwortete er auf die Frage, ob er seinen bis zur EM 2024 laufenden Vertrag zu erfüllen gedenke. Vielleicht wird ihm die Entscheidung ja aber auch noch abgenommen.


