Am Freitag stellt Amazon Prime die ersten Teile der Doku unter dem etwas sperrigen Titel „All or Nothing – die Nationalmannschaft in Katar“ in sein Bezahlportal ein. Sie gewährt erstaunliche Einblicke ins Innenleben einer Elitefußballmannschaft auf dem Weg der Selbstzerstörung. Es ist die beklemmende Geschichte eines Scheiterns.
Der Auftrag: als Weltmeister nach Hause zu fliegen. Die Realität: der Zusammenbruch aller Systeme. Gleich im ersten WM-Spiel gegen Japan und schon davor: die Debatte um die Kapitänsbinde als Stimmungskiller. Und mittendrin ein fast bemitleidenswert überforderter Bundestrainer, der die Welt nicht mehr versteht – der seine Spieler nicht versteht und andersrum. Irgendwann wirkt der Bundestrainer fast fatalistisch: „Ich weiß nicht, vielleicht rede ich auch irgendwie anders oder habe eine andere Sprache.“ Vor ihm sitzen 26 Nationalspieler, manche Blicke leer bei einer Aussprache, die kaum Wucht erzeugt.
Oliver Bierhoff kann die Nationalspieler nicht aufrütteln
Wir sehen Hansi Flick in den Tagen nach der Auftaktniederlage. Der Bundestrainer erhebt in einem fensterlosen Sitzungsraum des abgelegenen Wüstenquartiers die Stimme über Zimmerlautstärke: „Was war – scheißegal! Wir haben nur über Politik gesprochen. Jetzt geht es darum, diese WM anzunehmen. Okay? Wegen dem sind wir da. Das ist unser Job, euer Job. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er am Ende der Krieger ist … Männer, uns traut keine Sau was zu in Deutschland!“
Wir sehen auch Oliver Bierhoff vor der Mannschaft. Der Manager kann kaum an sich halten: „In mir brodelt es, da brodelt es richtig. Ich könnte kotzen! Was ich jetzt nicht sehen will, sind mitleidige Gesichter. Was ich auch nicht sehen will, ist in Augen blicken, die den Ernst der Lage nicht verstanden haben.“ Eine Rede, die aufrütteln soll, aber nicht mehr aufrütteln kann in der bleiernen Schwere, die sich längst breitgemacht hat.
Bald wieder Hansi Flick, wutschnaubend in der Pause des entscheidenden Spiels gegen Costa Rica in der Kabine: „Ich glaube, es geht los hier. Wir spielen eine Weltmeisterschaft. Es liegt an euch, Männer! Ganz alleine. Es liegt an euch, Charakter zu zeigen. Das kann nicht mehr wahr sein. Die sind so blind und wir machen die stark. Wenn wir so weitermachen, fahren wir nach Hause.“ So ist es dann auch gekommen bei der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar für Deutschland.
Neun Monate danach, an diesem Montag im Laufe des Tages, ist die deutsche Nationalmannschaft in Wolfsburg zur Vorbereitung auf zwei Länderspiele zusammengetroffen. Offiziell sind die Partien gegen Japan am Sonnabend und Frankreich am darauffolgenden Dienstag in Dortmund als Testspiele deklariert. In Wahrheit geht es dabei auch um die berufliche Zukunft von Hansi Flick.
Dass just einen Tag vor der Partie gegen Japan eine aufwendig produzierte, vierteilige Dokumentation gestartet wird, kann man durchaus als kühn bezeichnen. Geplant war der Film in sechs Teilen als Heldenepos im Blick zurück auf die Winter-Wüsten-WM 2022. Ganz so, wie 2006 Sönke Wortmanns „Deutschland. Ein Sommermärchen“ und – in etwas weniger opulenter Optik – 2014 die DFB-Eigenproduktion „Die Mannschaft“. Die erste Vorstellung der Saga des WM-Triumphs in Brasilien wurde seinerzeit auf dem roten Teppich am Potsdamer Platz in Berlin zelebriert. Vergleichbares fällt diesmal in Wolfsburg aus.
Denn neun Jahre danach liegt der deutsche Fußball in Trümmern – und während „All or Nothing“ in den Wohnzimmern per Streamingdienst anläuft, hocken Bundestrainer und Nationalspieler mutmaßlich mit schlotternden Knien in Erwartung von WM-Schreck Japan im Wolfsburger Ritz-Carlton-Hotel.
Was Japan im vergangenen November mit dem 2:1-Sieg über das DFB-Team im Khalifa-Stadion vor den Toren der katarischen Metropole Doha angestellt hat, wird in der Amazon-Produktion nicht verschleiert. Der Film offenbart mit zuweilen unverstelltem Blick durchs Schlüsselloch eine noch viel bedrückendere Atmosphäre im Kreis der deutschen Nationalmannschaft in deren abgelegener Bleibe im Wüstenemirat, als dies bislang nach außen gedrungen war.
Man sieht, bis auf einige wenige Ausnahmen, einen schlecht gelaunten Bundestrainer, dem die Sache zusehends entgleitet. Der im Vortrag vor seinen Spielern aber auch – mit bitterem Unterton – anschauliche Bilder bemüht, die er sich allerdings bei seinem Vorgänger entliehen hat: „Der Jogi hat mal einen Spruch losgelassen. Er hat gesagt: ,Was nützt dir eine Kuh, die zehn Liter Milch am Tag gibt und am Abend mit dem Schwanz den Eimer umhaut?‘“
Die internen kontroversen Debatten unter den Spielern um die von der Fifa abgelehnte One-Love-Binde werden im Film leider nicht mit der Kamera im Sitzungsraum dokumentiert. Zum Ausdruck kommt aber der geballte Frust vor allem beim überforderten Bundestrainer, mit der komplexen Situation umzugehen, auch Bierhoff spürt, wie ihm die Angelegenheit zusehends entgleitet: „Machst du nichts, ist es zu wenig, machst du was, ist es auch verkehrt.“ Schon früh hat der Frust die Regie übernommen.
Flick stellt unbeholfen auf stur (was er inzwischen bereut), verstößt gegen die Fifa-Auflage, zur Pressekonferenz vorm zweiten WM-Spiel gegen Spanien einen Spieler mitzunehmen, ein Affront, der nach der unseligen Bindendebatte völlig ohne Not zu den nächsten internationalen Verwerfungen führt. Vor Turnierbeginn wirft Flick mit dem Teampsychologen Hans-Dieter Hermann große Bilder auf die Leinwand: Graugänse beim Flug in deren Überwinterungsgebiet, die die Tausenden Kilometer nur meistern können, weil sie in der Gruppe fliegen. „Lasst uns von den Gänsen lernen und gemeinsam unseren großen Flug machen“, ruft Flick den Spielern zu, „lasst uns gegenseitig Aufwind geben.“ Bald danach folgt der Absturz.
Auch unter den Spielern kommt es zu Dissonanzen. Mittelfeldmann Joshua Kimmich gerät nacheinander mit den Abwehrleuten Antonio Rüdiger und Niklas Süle aneinander. Kimmich aufgebracht zu Süle: „Wie redest du mit mir auf dem Platz? Du beleidigst mich. Ich sag dir was ganz Normales, was Inhaltliches.“ Süle zu Kimmich: „Labere mich nicht voll! Ich bin der Letzte, der nicht respektvoll redet. Laber mich nicht voll, ich sag’s dir!“ Rüdiger zu Kimmich: „Ich sage dir, ich gebe dir Anweisungen.“ Kimmich zu Rüdiger: „Du sagst es nie ins Gesicht. Du sagst es immer so hintenrum: ,Der macht, was er will!‘ Sag mir: ,Jo, mach nicht, was du willst!‘“
Kann Hansi Flick den entstandenen Schaden überhaupt noch heilen?
Scharmützel, die in jeder Fußballmannschaft vorkommen, hier aber das Bild einer fatalen Unwucht zementieren. „Es ist“, sagt Sprecher Bela Rethy an einer Stelle, „die Geschichte einer Tragödie.“ Und man fragt sich in der Tat: Ist in Katar nicht zu viel kaputtgegangen, als dass Hansi Flick noch die Kraft und Autorität aufbringen könnte, den Schaden zu heilen?






