Anklage auf Lesbos

Der Prozess gegen die Berliner Seenotretterin Sara Mardini beginnt

2015 flüchtete die Syrerin mit ihrer Schwester nach Berlin. Während die eine bei Olympia schwamm, half die andere Geflüchteten – ihr drohen nun 25 Jahre Haft.

Sara Mardini 2019 bei einer Podiumsdiskussion zur Seenotrettung. Die Geschichte von ihr und ihrer Schwester Yusra wurde kürzlich von Netflix verfilmt.
Sara Mardini 2019 bei einer Podiumsdiskussion zur Seenotrettung. Die Geschichte von ihr und ihrer Schwester Yusra wurde kürzlich von Netflix verfilmt.imago/Christian Mang

Sara Mardini wird an diesem Dienstag mit ihrer Mutter in Berlin sein, beschäftigt mit dem Alltag, der Jobsuche. Aber in Gedanken wird sie woanders sein. Zurück auf der griechischen Insel Lesbos. Dort, wo an diesem Tag der Prozess gegen sie und 23 weitere Flüchtlingshelfer beginnt. Es ist dieselbe Sara Mardini, die im Sommer 2015 erschöpft und durchnässt mit ihrer Schwester Yusra das in Seenot geratene Schlauchboot voller Menschen auf Lesbos an Land zog, in dem die eigene Flucht der beiden jungen Syrerinnen begonnen hatte. Dreieinhalb Stunden nahmen die Schwestern das Boot im aufgewühlten Meer ins Schlepptau. Zuerst sprang Sara ins Wasser, dann Yusra. Beide wurden zu Lebensretterinnen.  

Knapp siebeneinhalb Jahre später blickt eine ganz andere Sara Mardini von Berlin aus nach Lesbos: Der 27-Jährigen, deren Lebensgeschichte vor wenigen Wochen im Netflix-Film „Die Schwimmerinnen“ erzählt wurde, drohen bis zu 25 Jahre Haft. Die Anklage gegen sie, den deutschen Rettungsschwimmer Seán Binder (28) und den griechischen NGO-Mitarbeiter Nassos Karakitsos (42) lautet: Fälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage. 

Seit mehr als vier Jahren wartet Sara Mardini auf einen Freispruch

Verhandelt wird zunächst nur über einen Teil der Anklagepunkte. Denn im Großen werden ihr und den anderen die Gründung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, die Unterstützung von Menschenhandel. All das bestreiten sie. Beim Prozessauftakt wird Sara Mardini von ihren Anwälten vertreten.

Seit mehr als vier Jahren wartet sie auf ein faires Gerichtsverfahren. Seit mehr als vier Jahren wartet sie auf einen Freispruch. 2018 verbrachte sie schon mehr als 100 Tage in griechischer Untersuchungshaft, nachdem sie während ihrer Arbeit für die gemeinnützige Organisation Emergency Response Centre International (ERCI) verhaftet worden war. Sie hatte Geflüchtete bei der Ankunft auf Lesbos mit Wasser, Essen und Decken versorgt. Seit mehr als vier Jahren lastet die Anklage schwer auf dem Gemüt von Sara Mardini.

Als sie mit ihrer Schwester Yusra 2015 im Alfreds, dem Klubheim der Wasserfreunde Spandau 04, am Tisch saß, hatte niemand im Raum eine Vorstellung davon, was für ein atemraubender Weg den beiden jungen Frauen aus Damaskus noch bevorstehen würde. 

Nathalie Issa (l.) als Yusra Mardini und Manal Issa als Sara Mardini in einer Szene des Films „Die Schwimmerinnen“.
Nathalie Issa (l.) als Yusra Mardini und Manal Issa als Sara Mardini in einer Szene des Films „Die Schwimmerinnen“.dpa/Netflix/Laura Radford

Sie hatten gerade ihr Land verlassen. Aus Angst. Nach fünf Jahren Krieg. Sie hatten die Bombardierung ihrer Schwimmhalle erlebt. Panzer auf der Straße. Alarmsirenen. Zerstörung. Nach 25 Tagen auf der Flucht über die Balkanroute wurden sie im Lageso registriert. „10.000 Dollar haben wir für die Flucht bezahlt“, sagte Yusra damals. „9000“, warf Sara ein. „10.000“, sagte Yusra. „9000.“ Die Schwestern sind oft verschiedener Meinung. Sara trainierte in Syrien die langen Schwimmstrecken, Yusra die kurzen. 

2015 zogen sie vom Flüchtlingsheim in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne ins Alfreds. Der Spandauer Schwimmtrainer Sven Spannekrebs half bei allem, was anfiel, fuhr mit ihnen zu den Behörden, kaufte mit ihnen ein, kochte mit ihnen im Klubheim. Er blieb ihr Begleiter, Freund, Integrationshelfer, wurde eine Art Manager und Stütze in allen Lebenslagen. 

„Am Dienstag wird erst mal die Anklageeröffnung wichtig“, sagt er. Der Fall sei der erste seiner Art in Griechenland, generell in Europa, in dem humanitäre Hilfe offiziell von einem Staat, einem EU-Mitgliedstaat, kriminalisiert wird, erläutert Mardinis Anwalt Zacharias Kesses. Am Montag wurde auf Lesbos in einem Kino mit 250 Plätzen der Netflix-Film über die Mardini-Schwestern gezeigt. 

Yusra sprach auf Einladung von Barack Obama in New York

Darin ist zu sehen, wie sie nach ihrer Rettungstat in Berlin Anschluss fanden. Wie Yusra bei Spandau 04 trainierte, ein Stipendium des Internationalen Olympischen Komitees bekam und 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zum Gesicht des Refugee Olympic Teams wurde. Die ganze Welt war inzwischen auf die Schwestern aufmerksam geworden. Sie gaben Interviews, bekamen ein Bambi in der Kategorie „Stille Helden“, Yusra sprach in New York auf Einladung von Barack Obama beim Flüchtlingsgipfel und bekam den Girls Award von Unicef. Sie traf Jordaniens Königin Rania. Der Deutsche Olympische Sportbund spannt sie für seine Integrationskampagne ein.

Yusra wurde zur Inspiration: „Viele sagen mir: ‚Du bist wirklich stark. Ich will wie du sein.‘ Ich will sie nicht enttäuschen“, sagte sie über ihre Rolle bei Olympia. Bei den Spielen startete sie auch 2021 in Tokio. Da trainierte sie schon in Hamburg. Vorigen Herbst erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft und zog nach Los Angeles, um an der University of Southern California Filmproduktion zu studieren.

Die Verhaftung war für Sara Mardini ein totaler Schock

Sara wurde Aktivistin, arbeitete für gemeinnützige Organisationen, brach ihr Studium am Berliner Bard College ab. Nach ihrer Freilassung auf Kaution war sie für die NGO Give Something Back To Berlin und 2021 mehrere Wochen für Sea-Watch im Mittelmeer unterwegs. Sie hält sich nach all dem Erlebten und auf der Suche nach sich selbst lieber im Hintergrund, gibt nur noch wenige Interviews. Der BBC sagte sie: „Meine Verhaftung war ein totaler Schock. Es ist noch immer ein totaler Schock.“

Lebensrettende humanitäre Arbeit, wie Sara Mardini sie geleistet habe, dürfe nicht bestraft werden, die erhobenen Anklagen seien eine Farce, urteilt der Direktor des europäischen Regionalbüros von Amnesty International, Nils Muižnieks. Eine Untersuchung des Europäischen Parlaments ergab, dass die Anklage „Solidarität kriminalisiert“. Sara Mardini sagt: „Da lastet etwas auf mir. Es ist nicht vorbei. Ich hoffe, es endet.“