Vorbericht

Union vor der Winterpause: Das Märchen vom Fischer und seinem Team

In seiner letzten Partie vor der WM steht der 1. FC Union als Zweiter beim Dritten SC Freiburg noch einmal vor einem Spitzenspiel. Was verbindet beide Teams?

Fans von Union Berlin 
Fans von Union Berlin dpa

Einmal noch 90 Minuten, dann ist das Jahr 2022 für die meisten Spieler des 1. FC Union zu Ende. Zumindest sportlich. Es ist wie immer in den vergangenen Jahren in der Alten Försterei: Sie eilen von Höhepunkt zu Höhepunkt. Auch wenn es zuletzt nicht mehr so am Schnürchen lief wie zuvor, mit dem 0:5 in Leverkusen und dem 2:2 zuletzt gegen Augsburg, schweben sie dennoch weiterhin auf Erfolgswolke sieben. Als Tabellenzweiter gehen sie in die abschließenden 90 Bundesligaminuten dieses WM-Jahres. Unfassbar eigentlich, zugleich aber unfassbar eisern ist das, was in Köpenick immer wieder abgeht. Um eine nicht ganz ernste Anleihe bei den Gebrüdern Grimm zu nehmen: Das Märchen vom Fischer und seinem Team geht einfach weiter.

Normalerweise ist es viel zu früh, um Bilanz zu ziehen, da noch nicht einmal der halbe November vorbei ist. In diesem Herbst aber ist so ziemlich alles anders als sonst. Der Höhepunkt steht noch kurz bevor, die Weltmeisterschaft.

Im Breisgau stehen sich im letzten Sonntagsspiel vor der Winterpause, die mit 68 Tagen die längste der Bundesligahistorie ist, mit dem SC Freiburg und dem 1. FC Union die beiden Teams gegenüber, die in diesem Jahr in der Liga deswegen für Furore gesorgt haben, weil mit ihnen kaum jemand gerechnet hat. Erstens haben sowohl die aus dem tiefen Südwesten als auch die aus dem Nordosten in der Vorsaison eine Rückrunde hingelegt, die sich gewaschen hat. Die Freiburger sind am Ende Sechster geworden und die Köpenicker Fünfter, bis zum letzten Spiel aber hatten beide die leise Hoffnung, dass aus der Europa League mit einer Portion Glück sogar Europas Königsklasse hätte werden können. Um ein Haar hätten sie gar, das wird ein halbes Jahr später gern schon wieder vergessen, zusammen im Pokalfinale gestanden.

Da Zahlen nicht lügen, sollen die für die Höhenflüge der beiden Teams in den dreißig Punktspielen dieses Jahres herhalten. Die Freiburger stehen bei 53 Zählern, die Eisernen gar bei 57. Nur der FC Bayern (65), Leipzig (61) und Dortmund (60) sind besser. Mit anderen Worten: Die Außenseiter mischen nicht nur die Liga auf, sie sind, auch wenn sie das hier wie da nicht gern hören und lieber bescheiden bleiben, schon wieder auf Kurs Europa. Viel mehr Spitzenfußball zum Abschluss des Kalenderjahres als eine Partie Dritter (Freiburg) gegen Zweiten (Union) gibt es nicht.

Solarzellen und Aktien

Das ist außergewöhnlich, und außergewöhnlich sind beide Vereine ohnehin. Sie stehen, was den professionellen Fußball angeht und den Zirkus, den die Bundesliga in ihrem eigenen Orbit immer mal wieder um sich macht, für eine völlig andere Philosophie. Das Dreisamstadion, in dem die Freiburger bis vor gut einem Jahr spielten, war das erste komplette Solarstadion in Deutschland. Auf 2200 Quadratmetern Solarfläche werden in der Arena pro Jahr 275.000 Kilowattstunden Strom produziert und damit der Ausstoß von rund 136 Tonnen CO² verhindert. Als die Solaranlage auf das Dach platziert wurde, hieß das Stadion, das unterscheidet die Badener von den Berlinern, Schwarzwaldstadion.

Die Alte Försterei nämlich ist schon immer die Alte Försterei gewesen. Ihre Besonderheit ist, dass vor 15 Jahren rund 2000 freiwillige Helfer, fast ausnahmslos glühende Anhänger des Vereins, fast 140.000 freiwillige Arbeitsstunden leisteten und innerhalb von 13 Monaten das Ballhaus des Ostens entstehen ließen. Eine wieder andere Geschichte ist, dass die Eisern-Fans beim Bau der Haupttribüne eine „Alte-Försterei-Aktie“ erwerben konnten, um den Bau zumindest zum Teil zu finanzieren. Das Ergebnis: Es wurden 5473 Aktien im Wert von 2.736.500 Euro erworben. Dem rot-weißen Fan ist, damit es seinem Herzensverein gut gehen möge, nichts zu teuer und zu schwierig schon gar nicht.

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Was die Freiburger schon immer und die Eisernen in den vergangenen viereinhalb Jahren von allen anderen abhebt, ist ihre Kontinuität auf den Trainerbänken. Von den Süddeutschen kennt das keiner anders. In dreißig Jahren sind sie in der Bundesliga trotz fünf Aufstiegen und vier Abstiegen mit lediglich vier Trainern ausgekommen. Volker Finke war sechzehn Spielzeiten im Amt, Robin Dutt vier, und nur dessen Nachfolger Marcus Sorg, seit 2016 Assistent des Bundestrainers, zuerst bei Joachim Löw und nun bei Hans-Dieter Flick, hat mit sechs Monaten Amtszeit die Bilanz kräftig torpediert. Seitdem herrscht im Schwarzwald einer, der inzwischen eine Institution ist: Christian Streich. Dieses Spiel noch gegen den 1. FC Union, dann ist der Charaktermensch, dem aufgrund seiner klaren Aussagen auch zu politischen und gesellschaftlichen Themen die Badische Zeitung einst einen „Streich der Woche“ widmete, geschlagene elf Jahre dabei.

Um diesen Methusalem-Zeitraum einzuordnen: Als Streich im Alter von 46 Jahren in die Bundesliga kam, wurden nicht die Bayern Meister, die es zuletzt zehnmal hintereinander geworden sind, sondern Borussia Dortmund; in München war Jupp Heynckes Trainer und Philipp Lahm Kapitän; beim BVB hieß der Trainer Jürgen Klopp, der Kapitän Sebastian Kehl und der beste Torschütze Robert Lewandowski; einer der Absteiger hieß 1. FC Kaiserslautern, der es seitdem nie wieder in die Erstklassigkeit geschafft hat. Noch besser: Auf Schalke, beim Wiederaufsteiger, gibt es in diesen Jahren mit Thomas Reis bereits den sechzehnten Coach.

Mit Urs Fischer kam die Stabilität zurück

Wie es um den 1. FC Union damals stand, das ist auch etwas für schon ältere Anhänger. Die Eisernen wurden nach einer ganz ordentlichen Saison in der 2. Bundesliga Tabellensiebter, an Aufstieg aber war nie zu denken. Ein direkter Aufstiegsplatz blieb satte zwanzig, der Relegationsplatz immerhin vierzehn Punkte entfernt. Auf gutem Weg, Kontinuität zu erreichen, waren die Köpenicker seinerzeit trotzdem auch. Uwe Neuhaus war die fünfte Spielzeit dabei und blieb schließlich sieben. Nicht einmal Christopher Trimmel war schon da, der Capitano, der am Mittwoch gegen Augsburg, wenn auch nur für die letzten zehn Minuten, als erster Spieler des 1. FC Union zum hundertsten Mal in der Bundesliga dabei war.

Mit Urs Fischer ist die Stabilität, die zwischendurch mit Trainern wie Norbert Düwel und Sascha Lewandowski wieder gewackelt hatte, zurück. Der Schweizer, dem Manager Oliver Ruhnert in einer eigentlich schon genialen Aktion die Wuhle schmackhaft machte, ist, wenn man so will, trotz aller Asse, die bisher gekommen sind, auf Jahre hin der Königstransfer. Einen, der nie woanders spielte als in der Schweiz (FC Zürich und FC St. Gallen) und auch nie anderswo Trainer war als in der Eidgenossenschaft (FC Zürich, FC Thun, FC Basel), zum ersten Wechsel ins Ausland und auch noch zu einem Zweitligisten in den Osten Berlins zu locken, grenzt im Nachhinein an ein Teufelswerk. Nach Christian Streich ist er in der Rangfolge jener Bundesligatrainer, die bei ihren Teams am längsten im Amt sind, längst schon die Nummer zwei.

Fischer ist einer, der in nahezu allen sportlichen Lagen seine Ruhe behält und Anstand bewahrt. Andere, die eine Bundesligapremiere mit einem 0:4 gegen Leipzig krachend vergeigen, wie es den Eisernen am 18. August 2019 passiert ist, stehen nicht wieder auf. Zumindest nicht so schnell. Er hat das weggesteckt wie andere einen Mückenstich oder ein Gegentor in der 90+x-ten Minute bei eigener 7:0-Führung. „Der Tank ist nicht mehr so voll“, sagte Fischer erst jüngst über das proppevolle Programm seiner Mannschaft, die in drei Wettbewerben überwintert. Damit wollte er ein wenig den Druck nehmen und die Erwartungen dämpfen, die zumindest in Teilen der Fankurve nach sieben Spieltagen als Tabellenführer entstanden sind. Für 90 Minuten plus Nachspielzeit soll der Tankinhalt trotzdem noch reichen. Damit das Märchen vom Fischer und seinem Team im nächsten Jahr, da mit dem Kommen von Ajax Amsterdam ein ganz großer europäischer Moment ohnehin bevorsteht, weitergeht.