Kolumne 1. FC Union

Ich bin kein Star, also spiele ich bei Union!

Bei den Köpenickern glänzt kein Einzelner, sondern die Gruppe: Jeder verrichtet auch mal Drecksarbeit – sogar die Angriffsspitzen.

Sheraldo Becker (vorne) und Jordan Siebatcheu (l.) schießen nicht nur Tore, sie verhindern auch welche.
Sheraldo Becker (vorne) und Jordan Siebatcheu (l.) schießen nicht nur Tore, sie verhindern auch welche.imago/Koch

Mancher Spruch überlebt eine Sportlerkarriere. Zum Beispiel dieser, der erst einmal in der Welt des Radsports für Aufmerksamkeit und Heiterkeit sorgte, bald aber den Weg darüber hinaus fand: „Quäl dich, du Sau!“

Udo Bölts hat das zu Jan Ullrich gepöbelt, nicht auf der Königsetappe der Tour de France 1997, auf der von St. Étienne nach L’Alpe d’Huez, einem 203,5-Kilometer-Kanten mit dem Ziel auf einem der legendärsten Gipfel in den französischen Alpen. Sondern als es über die Vogesen ging und Ullrich den Toursieg in den Sand zu setzen drohte. Ullrich hat, auch weil er so angefeuert wurde, seine Schwächephase überwunden. Und: Der Rostocker hat die Große Schleife gewonnen. Als erster und noch immer als einziger Deutscher. Etwas über neun Minuten Vorsprung hatte er nach der Zielankunft auf den Champs-Élysées auf den Franzosen Richard Virenque, seinen zuletzt ärgsten Verfolger.

Im Fußball funktioniert es anders als im Radsport

Was im Radsport geht, dass sich ein Einzelner in den Dienst des Kapitäns stellt (und wenn es mit so einem Bölts-Anmach-Spruch ist), dass ein Teamkamerad für den eigentlichen Sprinter den Spurt anzieht, geht auch in anderen Sportarten. So im Langstreckenlauf, wo sogenannte Hasen das Tempo machen für den vermeintlichen Star, der im Windschatten Körner spart, um sich dann mit einem neuen Rekord, dem Titel oder der Medaille feiern zu lassen.

Im Fußball funktioniert so etwas nicht. Mag sein, dass hier Torhüter, Kreativspieler und die, die Tore am Fließband erzielen, stärker in den Blickpunkt geraten als knallharte Zerstörer oder giftige Balleroberer. Die Wahlen zu den Besten der Besten zumindest erhärten das. In den vergangenen 30 Jahren gab es mit Jürgen Kohler (1997), Jérôme Boateng (2016) und Philipp Lahm (2017) nur drei Defensivspieler als Deutschlands Fußballer des Jahres. Bei der Wahl zum Weltfußballer, die es seit 1982 gibt, gibt es sogar nur einen Abwehrmann, der diesen Lorbeer erhielt: Fabio Cannavaro, Italiens Weltmeister-Kapitän von 2006. Ganz ähnlich sieht es in Europa aus, auch wenn hier Virgil van Dijk, der Niederländer, der den FC Liverpool anführt, 2019 auf den Thron kam und die Statistik ein wenig hübscht. Ansonsten: Keeper, Künstler, Knipser.

Dabei ist Fußball jene Sportart, in der nur einer glänzen sollte: die Gruppe. Genau dafür ist der aktuelle 1. FC Union das beste Beispiel. Wenn Frederik Rönnow, der erst vier Gegentore hinnehmen musste und sein Team damit die wenigsten in der Liga, beim 2:0 gegen Wolfsburg zum zweiten Mal die Null hielt, kann das Lennart Grill, der ihn in der Woche zuvor beim 1:0 in Köln vertreten hatte, auch. Dass die Abwehr den Löwenanteil daran hat, dass sich die Gegner an den Eisernen die Zähne ausbeißen, ist völlig klar. Außerdem ist es kein Geheimnis mehr, dass die aus der Alten Försterei, vornweg Rani Khedira, so viel keulen wie sonst niemand. Zuletzt schafften sie mit 122,13 Kilometern Laufleistung erneut den Tagesbestwert. Dass zudem die Angreifer wie verrückt knipsen – 15 Tore sind nach den Bayern mit 19 die zweitbeste Ausbeute –, heißt auf Berlinerisch: Et looft!

Was die Eisernen nicht haben, ist ein Star. Das ist gar nicht schlimm, vielleicht sind sie gerade deshalb so gut, weil jeder auch mal Drecksarbeit verrichtet wie zuletzt in Sheraldo Becker und fast noch mehr Jordan Siebatcheu die beiden Angriffsspitzen. Der 1,90-Meter-Hüne hatte gegen Wolfsburg, abgesehen von seinem dritten Saisontor, fast die besseren Momente im Pressing des Gegners. Einmal, völlig verrückt, jagte er, der sein Kerngeschäft vornehmlich im gegnerischen Strafraum sieht, 20 Meter tief in der eigenen Hälfte den ballführenden Gegnern so lange und so bissig hinterher, bis er sie 20 Meter tief in deren Hälfte hatte. Ergebnis: Angriff gestoppt, Beifall von den Mitspielern und Daumen hoch von der Trainerbank. Mit eisernen Worten: Ich bin kein Star, also spiele ich bei Union! Das war schon 1968 so, als sie mit dem FDGB-Pokalsieg ihren bislang einzigen großen Titel gewannen. Der damalige Torhüter Rainer Ignaczak hatte es nicht vergessen und sagte noch kurz vor seinem Tod: „Dafür waren wir ein geiler Haufen.“