Gora Sen und Leo-Jonathan Teßmann haben viel Erfahrung im Fußball und entschlossen sich, das Buch mit dem Titel „Denkfabrik Nachwuchsfußball: Wie können wir es besser machen?“ zu schreiben, das im März 2022 auf den Markt kam und durch die aktuelle Situation im deutschen Fußball noch einmal zusätzlich an Aktualität und Brisanz gewonnen hat. Sie sprechen in höchster Wertschätzung voneinander und standen der Berliner Zeitung gemeinsam für ein ausführliches Interview zur Verfügung.
Wie haben Sie den Kontakt geknüpft und sich entschieden, ein solch großes Projekt gemeinsam anzugehen?
Sen: Leo war der Ausgangspunkt für alles. Er hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihm ein Buch über Nachwuchsfußball zu schreiben. Ich hatte relativ früh den Eindruck, dass er – wenn er so was fragt – es auch ernst meint. Lustig war, als er zu mir sagte: Ich habe jetzt ein Jahr Zeit. Ich kann mich noch daran erinnern, wie irritiert ich war. Wenn ich mit Mitte 20 ein Jahr Zeit gehabt hätte, wäre ich auf völlig andere Ideen gekommen, als ein Buch zu schreiben. Auf die sinnlosesten Weisen hätte ich meine Zeit damals verplempert. Aber das ist ein anderes Thema. Letztendlich kam es zu dem Buch, weil wir von sehr ähnlichen Motiven getrieben waren. Man muss sagen, dass im Nachwuchsfußball auf vielen Ebenen kritikwürdige Dinge geschehen, und zwar schon relativ lange.

Leo-Jonathan Teßmann über U23-Wegfall: „Hat dem deutschen Fußball geschadet“
Was halten Sie unter dem Gesichtspunkt denn davon, dass der 1. FC Union Berlin vor einigen Jahren seine U23 abgeschafft hat?
Teßmann: Wenn wir über die U23-Thematik reden, dann fällt es von außen natürlich leicht zu sagen, Union, was habt ihr da gemacht? Die Resultate sprechen ja für sich. Es ist ja nicht erst seit dieser Saison so, dass es da kein Junge aus dem Nachwuchs schafft, nennenswerte Minuten in der Profimannschaft zu sammeln. Das ist, seitdem die U23 abgeschafft wurde, konstant so gewesen. Union hat Schwierigkeiten in der Durchlässigkeit, das ist erst mal eine Feststellung. Aber wenn man die Entwicklung des Gesamtvereins sieht, dann fällt es natürlich schwer, dort Kritik zu äußern. Denn die Abschaffung der U23 hat womöglich dazu geführt, dass man Geld eingespart hat, welches man woanders investiert hat. Und ein paar Jahre später sind sie ein etablierter Bundesligist und spielen in der Europa League.


Neben Union besitzen auch andere Bundesligisten (u.a. Bayer 04 Leverkusen, VfL Bochum, RB Leipzig) keine eigene U23-Mannschaft mehr.
Teßmann: Das Weglassen dieser letzten Stufe der Ausbildung in immer mehr Vereinen hat dem deutschen Fußball sicherlich geschadet. Es ist offensichtlich, dass gerade Vereine wie Union eine U23 bräuchten, weil der Schritt in die Profimannschaft für die allermeisten Spieler, die aus der U19 rausgehen, einfach zu groß ist. Viele Talente benötigen Zeit, um sich an den Männerfußball zu gewöhnen. Und sie brauchen den Wettkampf Woche für Woche. In den oben genannten Vereinen ist das im Übergang zum Lizenzbereich einfach nicht gegeben.
Sen: Natürlich gibt es ein paar Spieler, die – noch während sie U17- oder U19-Spieler sind – eigentlich schon alles haben, um weiter oben zu spielen. Aber das sind eben nicht viele. In diese Kategorien fallen Florian Wirtz, Kai Havertz oder Timo Werner. Diese Spieler sind die absolute Ausnahme. Viele Vereine, die diese Stabilisierungsstufe U23 abgeschafft haben, hoffen auf diesen einen Spieler, der ja nur alle fünf Jahre kommen muss, um dann das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) zu refinanzieren. Aber in den meisten Vereinen – und Union gehört dazu – kommt der nicht. Er kommt einfach nicht.

Teßmann: Man sieht ja auch in anderen Sportarten, dass die Entwicklung nicht mit 17 oder 18 Jahren abgeschlossen ist. Athleten erreichen in den meisten Sportarten ihr Höchstleistungsalter erst mit Mitte 20. Vor diesem Hintergrund ist es einfach schwierig, die U23 wegzunehmen. Um noch einmal auf Union zurückzukommen: Sie hatten mit Christopher Lenz jahrelang eigentlich ein Paradebeispiel dafür, wie wertvoll die U23 sein kann, in ihren eigenen Reihen. Lenz hat über 100 Spiele für die U23 von Borussia Mönchengladbach in der Regionalliga West gemacht. Inzwischen spielt er Champions League bei Eintracht Frankfurt!

Gora Sen über Jugendfußball-Problematik: „Hemmende Wirkmechanismen“
Sen: In unserem Buch sind wir am Ende dahin gekommen, dass wir festgestellt haben, dass es so was wie immer wiederkehrende, hemmende Wirkmechanismen gibt, die sozusagen die Ursachen aller Reserven des deutschen Nachwuchsfußballs darstellen. Einer dieser Mechanismen – und da gehört dieses U23-Thema voll mit rein – ist, dass wir alles immer mit so einem Linearitätsdenken tun. Wir denken, die menschliche und sportliche Entwicklung wäre etwas, das einfach den Verlauf einer ansteigenden Linie nimmt. Weil wir die eine Sache reintun, kommt an einer anderen Stelle etwas dabei raus, was sich proportional zu dem, was du da reingetan hast, entwickelt. Dieser Gedanke ist leider falsch! Aber die Wettkampfmodelle, Scouting- und Fördermaßnahmen werden so gebaut, dass das als Basis gilt.

Gora Sen zu Klima in Nachwuchsleistungszentren: „Die Freiheit fehlt“
Wie sieht es Ihrer Meinung nach bei Hertha BSC aus?
Sen: Hertha schaut seit vielen Jahren in Oster- und Herbst-Zyklen auf sehr junge Spieler und kennt hier in Berlin eigentlich fast alle Spieler schon sehr früh. So spielen in den Hertha- Mannschaften traditionell sehr begabte Kinder und Jugendliche. Es liegt zwar schon etwas zurück, aber die Jahrgänge um Kevin-Prince und Jerome Boateng, Änis Ben-Hatira sowie Ashkan Dejagah waren zum Beispiel wirklich spektakulär. Die Art und Weise, wie sie damals Deutscher Meister geworden sind. Die haben gegen Dortmund oder Leverkusen nicht nur gewonnen, die haben sechs Tore geschossen. Ich erwähne diese Zeit, weil im Anschluss lauter Trainer und Pädagogen geholt wurden, die versucht haben, solche Typen zu finden und dann einzudämmen. Das stellen wir im NLZ-Klima in Deutschland und hier in Berlin, wo wir das am besten einschätzen können, fest, dass die Freiheit fehlt. Die Eigenverantwortung fehlt. Es wären ganz andere Spieler möglich. Auf dem Platz, aber auch neben dem Platz.
Teßmann: Für mich liegt die Ursache dieses Problems auch ein Stück weit darin, dass die Welt, in der die Jugendspieler heute leben, eine in sich geschlossene ist. Das war zu meiner Zeit (Anm. d. Red.: bis 2014) noch ein bisschen anders. Auch damals gab es die Kooperation mit der Eliteschule des Fußballs, der Poelchau-Schule. Aber in meinem 1996er-Jahrgang waren vier oder fünf Spieler auf der Poelchau, der Rest war auf irgendwelchen anderen Oberschulen und Gymnasien.

Leo-Jonathan Teßmann über NLZ: Schwer, „sich als Persönlichkeit zu entwickeln“
Was ist denn der Vorteil von denjenigen, die nicht auf die Poelchau gehen?
Teßmann: Die lernen das normale Leben kennen. Die haben ganz normale Mitschüler, die ganz andere Interessen haben, die ein ganz normales kindliches beziehungsweise jugendliches Leben führen. Das lernst du heute – wenn die 20 Spieler einer Mannschaft auch in der gleichen Klasse sind – nicht mehr kennen. Die haben den gleichen Tagesablauf, die sind mit ihren Jungs die ganze Zeit im gleichen Kosmos, haben den gleichen Freundeskreis außerhalb und in der Schule. Wenn du so wenige Facetten des Lebens kennenlernst, ist es natürlich ungleich schwerer, sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Wenn du dann auch noch von allen Seiten kontrolliert wirst, dir vieles abgenommen wird und du keine Widerstände überwinden musst, ist das sicherlich nicht das Umfeld, das dich als Menschen wachsen lässt. Am Ende raubt dir das Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und Individualität.
Sen: Da können wir dann auch die Brücke bauen zum WM-Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft. Auch dort haben wir gesehen, dass wir das nicht haben. Das ist ein direktes Resultat unserer Ausbildung. Nicht nur bei Hertha, sondern in ganz Deutschland. Das ganze System ist extrem durchprofessionalisiert und es gibt wenig Raum für Selbsterkenntnis und Fehler. Vor etwas mehr als 20 Jahren hat man in einer ähnlichen kritischen Situation wie heute Veränderungen herbeigeführt, die zu respektablen Erfolgen geführt haben. Der Schlüssel war, einfach mehr zu investieren. Mehr Geld, mehr Personal, mehr Ressourcen. Jetzt wäre es wichtig, die Bedeutung des Fußballs wieder etwas herunterzufahren und die Jungs wieder vermehrt ins normale Leben zurückzuholen. Davon erleben sie einfach zu wenig. Dieses System ist dekadent und hat sich überholt.

Also hat Sie auch das frühe Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2022 in Katar nicht überrascht?
Teßmann: Nein. Das war nur eine logische Weiterführung des Trends. Wir haben uns ja schon 2020 dazu entschlossen, ein Buch darüber zu schreiben, dass der Nachwuchsfußball in vielerlei Hinsicht Reserven und Optimierungspotenziale offenbart. Dementsprechend können wir gar nicht überrascht gewesen sein. Wobei ich nicht damit gerechnet hatte, dass wir schon in der Vorrunde und nicht im Achtel- oder Viertelfinale ausscheiden würden. Dazu muss man aber auch sagen, dass Fußball eine Sportart ist, die sehr komplex ist. Und komplexe Sportarten haben an sich, dass sie eine große Zufalls- und Glückskomponente beinhalten. Dazu ist Fußball noch ein Low-Scoring-Game, es fallen nicht viele Tore. Die Natur von solchen Spielen ist, dass Zufall und Glück auch einen großen Einfluss haben. Wir hatten bei dieser WM sicherlich nicht das Glück auf unserer Seite. Es hätte unter anderen Umständen sicherlich auch ein bisschen weiter gehen können. Aber den ganz großen Wurf oder auch das Halbfinale hätte ich der deutschen Mannschaft nicht zugetraut.

Sen: Weil es immer mehrere Qualitäten braucht, die du bei so einem Turnier haben musst. Die absolute Qualität der Leute, die du am Start hast. Wenn man jetzt einfach nur mal über Frankreich nachdenkt, kriegt man eine absolute Top-Mannschaft aus den Spielern zusammen, die nicht gespielt haben. Und dann wurden ja auch noch viele Spieler aus dem Kader Marokkos in Frankreich ausgebildet. Die Franzosen sind offensichtlich gerade in der Lage, drei oder vier Mannschaften zu bauen, die theoretisch das Niveau hätten, ein Viertelfinale bei der WM zu erreichen. Daneben gibt es natürlich noch viele Faktoren, die man so auf der Metaebene einordnen kann. Also all das, was mit atmosphärischen Dingen und dem Funken, der überspringen muss, zu tun hat. Wir haben im Augenblick ein gesellschaftliches Klima, das einen Fokus auf den Sport und das Entwickeln von Leidenschaft für dieses konkrete Turnier schwerer gemacht hat. Letztendlich hat es zu wenig Verbindendes gegeben.

Gora Sen über Spitzenfußball: „Bin eigentlich schon lange pappsatt“
Wiederkehrend ist zu hören, dass der Funke von der Nationalmannschaft auf die Fans nicht mehr überspringt. Wie sehen Sie das?
Sen: Ich merke schon seit einigen Jahren, dass diese Spitze des Fußballs, dieser Superhyper-Profifußball, emotional nicht mehr richtig bei mir ankommt. Ich bin eigentlich schon lange pappsatt. Ich habe auch große Schwierigkeiten mit dieser WM gehabt – in Bezug auf die Fifa und die Rolle der Fifa und auch die von Katar. Die Begleitumstände haben bei dieser WM dazu geführt, dass ich viele der Spieler, die eigentlich tolle Fußballer sind, nicht mehr mit dieser naiven Bewunderung anschauen kann. Weil all diese Leute sich dermaßen massiv an diesen Teil des Fußballs, den ich nicht feiere, verkauft haben. Was dort passiert ist, ist in Ableitung auch spürbar in dem Fußball, mit dem wir uns eigentlich beschäftigen. Und an der Stelle komme ich jetzt wieder emotional ins Spiel und stelle einfach fest: Es wird ganz vieles im Jugend- und Amateurfußball kopiert, was im Profifußball an Absurditäten und wirklich total falschen Dingen passiert. Nur mit weniger Geld. Aber mit der gleichen Attitüde und der gleichen vollen Fokussierung nur aufs Gewinnen.


