Psychologie-Ratgeber

Kennen Sie die vier Stressphasen? Erfahren Sie, ob Sie zu viel Stress haben

Alltagshektik, Mental Load, hohe Anforderungen: Habe ich zu viel Stress? Warum kriegen andere das besser hin und wuppen ganz easy viel mehr als man selbst?

Stress wegatmen? Kann klappen, wenn man es richtig macht. 
Stress wegatmen? Kann klappen, wenn man es richtig macht. imago/Valeria Schettino

Wir leben in einer stressigen Welt, in der wir unendlich viele Termine und To-dos haben, in der es um die richtige Work-Life-Balance ebenso geht wie um Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung. Die eine kriegt das (augenscheinlich) mit Leichtigkeit hin, der andere hadert mit all den Ansprüchen. Warum ist das so?

Wieso fühlt jemand sich gestresst und eine andere Person nicht? Was kann ich tun, damit mehr Leichtigkeit in den Alltag kommt? Und woher weiß man, dass man wirklich gestresst ist, dass alles zu viel ist? Wann sollte man gegensteuern? Eine Psychologin weiß Rat.

Was ist Stress?

Laut Duden ist Stress eine „erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“, umgangssprachlich aber auch einfach nur Ärger, etwa mit den Eltern. „Das, was wir als Stress empfinden, ist vom Grundsatz her eine sehr natürliche, aus der Evolution kommende Reaktion“, sagt Heike Reuber, Psychologin bei der Achtsamkeits-App 7Mind, deren zertifizierte Präventionskurse teilweise oder vollständig von den Krankenkassen erstattet werden.

„Stress ist eine Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung“, so die Expertin. „Allerdings haben sich die Szenarien verändert. Wir werden nicht mehr von wilden Tieren bedroht, aber unser Körper reagiert dennoch so, wenn wir uns gestresst fühlen.“ Das heißt konkret: „Unsere körperliche Leistungsfähigkeit wird durch die Ausschüttung von Stresshormonen erhöht, dazu zählen Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin.“

Was macht Stress mit uns?

Es geht darum, eine akute Gefahr bewältigen zu können – und zwar, indem man kämpft oder flieht, im Englischen als „fight or flight“ bekannt. „Hierzu wird der Sympathikus hochgefahren, das ist jener Teil des vegetativen Nervensystems, der Energie bereitstellt und Kräfte mobilisiert“, so Heike Reuber.

In der modernen Psychologie wurde die „fight or flight“-Theorie noch ergänzt um „freeze or fawn“, also „erstarren oder schmeicheln“. Freeze ist bei uns auch als Vogel-Strauß-Taktik bekannt. Man stellt sich tot. „So wie die Gazelle im Maul eines Raubtiers“, sagt Heike Reuber. „Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass von einem abgelassen wird.“

Beim Umschmeicheln geht es darum, den Angreifer – oder eben: Stressor – zu besänftigen. Das Konzept kennt man vor allem aus der Gewaltforschung: Man will sein Gegenüber milde stimmen, um selbst möglichst unbeschadet aus der Sache herauszukommen. „Aber auch in der Wissenschaft zu traumatischen Kindheitserfahrungen ist das ein Thema“, so die Psychologin. „Manche Kinder können bei Bedrohung ganz klein werden, sie können sich nicht stark machen, also sind sie gefällig.“

Stress besteht aus vier Phasen

Normalerweise bezeichnen die meisten Menschen von uns bestimmte Situationen als stressig, etwa wenn wir hetzen müssen, um die Bahn zu kriegen, oder der Tag keine Zeit für Pausen lässt, weil auf Arbeit einfach viel zu viel zu tun ist. „Wir beschreiben also Momente, Reaktionen oder ein Lebensgefühl als Stress“, sagt die 7Mind-Expertin Heike Reuber. In der Psychologie jedoch gibt es ein Modell, das Stress in vier Phasen unterteilt.

Phase eins, der Auslöser: „Es gibt Stressoren, also Reize, die uns in den Prozess hineinbringen“, erklärt Heike Reuber. Das kann schon das Angehuptwerden auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit sein oder ein blöder Kommentar wegen irgendeiner Kleinigkeit vom Partner beziehungsweise der Partnerin. Auch ein schlecht gelaunter Chef, ein aufreibender Arzttermin mit langen Wartezeiten, die Hochzeit der besten Freundin, viele Hausaufgaben des Kindes können Stress bedeuten.

Phase zwei, der Alarm: „Wir merken, dass wir körperlich reagieren. Das ist bei jedem Menschen anders“, so die Psychologin. „Zu den Symptomen zählen schwitzige Hände, innere Unruhe, Angst, Herzklopfen, Gedankenkarussell, extrem ausgeprägte Emotionen.“

Phase drei, die Reaktion: Auch das ist individuell, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch, aber auch von Situation zu Situation. Fight, flight, freeze or fawn. Kämpfen, fliehen, erstarren oder umschmeicheln. Man handelt – oftmals instinktiv, manchmal auch geplant, weil man sich im Vorfeld Gedanken machen konnte, beispielsweise wie man mit dem Stress umgeht, vor vielen Menschen einen Vortrag halten zu müssen.

Phase vier, die Erholung: „Zu einem gesunden Stresszyklus gehört die Phase der Entspannung, in der man runterkommt, in der Körper und Psyche wieder ins Gleichgewicht kommen“, erklärt Heike Reuber. „Der Parasympathikus fährt uns runter.“

Akuter Stress ist durch diese vier Phasen gekennzeichnet. Chronischer Stress hingegen überspringt die letzte Phase. „Somit ist man gefangen in einer Schleife, in der es keine oder nicht ausreichende Erholung gibt und die uns ein körperliches und psychisches Gleichgewicht verwehrt“, fasst Heike Reuber zusammen.

Woran merke ich, dass ich Stress habe?

Es gibt innere und äußere Stressoren. Letztere können gewisse Umstände sein, aber auch Lärm und Hitze oder langes Warten. Innere Stressoren sind Überzeugungen und Erwartungen, beispielsweise Perfektionismus. Auch Über- oder Unterforderung kann stressen, ebenso soziale Faktoren wie Einsamkeit, Mobbing oder familiäre Konflikte.

„Wann wir uns gestresst fühlen, ist sehr individuell und auch veränderlich“, so die Fachfrau. „Das, was uns heute stresst, lässt uns in ein paar Jahren vielleicht kalt und umgekehrt. Das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Eine wichtige Grundfrage lautet jedoch: Wie hoch ist meine wahrgenommene Kontrolle?“

Es ist nämlich der Kontrollverlust, der uns stresst. Selbst dann, wenn er nicht real ist, sondern wir ihn nur annehmen. „Ungewisse Zustände machen uns schnell fertig. Dass man nicht oder nicht genau voraussagen kann, wie sich etwas weiterentwickelt, kann für uns Stress bedeuten“, sagt Heike Reuber. Deshalb fühlen sich die meisten Menschen wohl, wenn sie Routinen haben und ihr Alltag strukturiert abläuft.

„Wir brauchen ein gewisses Maß an Kontrolle und Gewissheit, eben Verlässlichkeit“, resümiert die Psychologin. „Sobald uns etwas entgleitet, wollen wir schnellstmöglich wieder alles in den Griff kriegen.“

Tipp: Beobachten Sie sich selbst, reflektieren Sie Ihr Handeln ebenso wie Ihre Gedanken. Tun Sie das so oft wie möglich und notieren Sie das, wenn möglich. So werden Sie schnell einen Überblick bekommen, ob und wie sehr Sie tatsächlich gestresst sind.

Heike Reuber beschreibt, welche Leitfragen Sie hierzu im Hinterkopf haben sollten: Wie sieht meine Gedankenwelt aus? Wie fühlt sich mein Körper an, welche Zeichen sendet er und welche Körperhaltung habe ich? Was spüre ich in der Situation, was danach? Wie reagiere ich jeweils?

Auf chronischen Stress können Symptome wie Ein- und Durchschlafprobleme, Aggressionen, Zähneknirschen, Verspannungen (vor allem im Schulter- und Nackenbereich), Kopfschmerzen, Magenprobleme, Nägelkauen deuten.

„Die meisten Menschen kennen sich gut genug, um derartige Signale, die es oftmals in früheren Lebensphasen schon gab, richtig zu deuten, nämlich als Stress-Warnzeichen“, sagt die Psychologin. „Und dann sollte man ehrlich zu sich sein und analysieren, was genau die Sorgen und Probleme sind.“

Wie bekämpfe ich Stress effektiv?

„Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung“, sagt ein altes Sprichwort, und es trifft den Kern. Um den Stress loszuwerden, müssen Sie als Erstes herausfinden, was Sie genau stresst. „Es hilft, seine Probleme, Gedanken und Emotionen zu verschriftlichen. Man kriegt es für den Moment buchstäblich aus dem Kopf“, weiß Psychologin Heike Reuber. „Schaffen Sie sich hierfür Zeiträume, ritualisieren Sie es wie das alltägliche  Zähneputzen.“

Wenn Sie sich gezielt Zeit nehmen, um eine Fehleranalyse zu betreiben, hat das zwei Vorteile: Erstens, Sie steigen ganz bewusst aus dem Hamsterrad aus und schaffen sich eine Zeit, in der Sie, zweitens, ganz bei sich sind. Das Nachdenken und Schreiben kann hilfreich sein, bestehende Stressoren zu erkennen und zu einer Lösung zu kommen. Außerdem ist das Ganze auch eine gute Achtsamkeitsübung, die zur Entspannung beitragen kann.

Falls Sie nicht wissen, was Sie schreiben sollen, stellen Sie sich folgende Fragen: Gab es heute Stresssituationen? Wie bin ich mit ihnen umgegangen? Was hat das mit mir gemacht? „Auch ein Wochenrückblick ist okay, falls Sie nicht täglich schreiben können oder wollen“, rät Heike Reuber.

Schauen Sie, wann es zeitlich für Sie passt. Wenn Sie abends schreiben, kann es Sie aufwühlen und über das Schreiben hinaus weiter beschäftigen. Oder aber das Schreiben durchbricht die Gedankenkreise und Sie finden eher zur Ruhe. „Probieren Sie aus, was für Sie passt. Wichtig ist, dass das Ganze kein neuer Stresspunkt für Sie wird, sondern positiv besetzt ist“, so die Psychologin. „Alternativ kann es auch ein Gespräch mit einem nahestehenden Menschen sein.“

Seien Sie gut zu sich

Was bei Stress auch hilft: Sorgsam und nachsichtig mit sich selbst sein. Viele von uns kennen das: Man befindet sich in der berühmten Rushhour des Lebens, muss so vieles gleichzeitig jonglieren und auf die Reihe kriegen, an so vielen Fronten kämpfen, und doch wird man niemals allem und jedem gerecht. Das frustriert und kann dazu führen, dass man noch einen Gang hochschaltet, um mehr Erledigungen in seinen Tag zu quetschen.

Falsch! „Wir neigen dazu, uns streng zu bewerten, und fühlen uns dann schlecht“, weiß Heike Reuber. „Dabei wäre es viel wichtiger, uns selbst zu loben und zu sehen, was wir alles geschafft haben, anstatt so streng mit uns zu sein und uns selbst vorzuwerfen, was wir nicht geschafft haben.“

Achtsamkeit bedeutet, „ohne Bewertung den Istzustand wahrzunehmen“, sagt die Expertin. „Für den Moment die Dinge so sein lassen, wie sie sind, ohne dass dazu Bewertungen entstehen. Das kann auch bedeuten, dass Traurigkeit, Wut oder ein Stresserleben erst mal angenommen wird. Gehen Sie einen Schritt zurück, betrachten Sie die Situation oder Ihr Erleben. Sagen Sie sich: ‚Das ist halt gerade so.‘“

Derartige Gedanken bringen uns in eine offenere, konstruktivere Haltung, aus der heraus wir freier agieren können. Wut kann lähmen, Wut stresst ungemein. „Wenn Sie mit starken Emotionen konfrontiert sind, fragen Sie sich, was Sie für sich tun können. Erholung oder Entspannung kann Sie in einen klareren, ruhigeren Gemütszustand bringen“, empfiehlt Heike Reuber. Das können Kleinigkeiten sein wie die Tatsache, dass man auch eher lästige Dinge nicht nebenbei erledigt, sondern bewusst macht, etwa die Hausarbeit.

Man kann sich darüber ärgern, schon wieder den Müll rausbringen zu müssen. Man kann stattdessen aber auch jeden Handgriff und Schritt in Gedanken benennen und begleiten, was ein Ausstieg aus der Frustrationsspirale ist. „Hören Sie hin: Was für Geräusche macht das? Wie fühlt sich das an? Wie viele Schritte gehe ich?“, zählt Heike Reuber die möglichen Gedankengänge auf, die helfen können, den empfundenen Stress zu minimieren. Sie rät: „Tauchen Sie nur ins Hier und Jetzt ein!“

Und, natürlich: Tun Sie sich Gutes! Was immer Ihnen hilft, sich zu entspannen, Stress abzubauen, sich wohlzufühlen: Tun Sie es! Am besten jetzt gleich und ohne schlechtes Gewissen, denn die Investition in uns selbst ist die beste, die wir tätigen können – und davon profitieren auch andere. Niemand hat etwas davon, wenn Sie gestresst, schlecht gelaunt und nicht mehr leistungsfähig sind. Darum: Laden Sie Ihre Akkus wieder auf!