Ratgeber

Ist es besser, einem Obdachlosen Geld oder Essen zu geben?

Sollte ich einem obdachlosen Menschen einen Schlafsack schenken? Wie spreche ich die Person richtig an? Eine Psychologin der Stadtmission erklärt es.

Bahnbrücke an der Hardenbergstraße am Zoo: Hier leben viele obdachlose Menschen.
Bahnbrücke an der Hardenbergstraße am Zoo: Hier leben viele obdachlose Menschen.Berliner Zeitung/Markus Wächter

In der Hauptstadt leben laut einer Zählung aus dem Jahr 2020 etwa 2000 obdachlose Menschen. Hinzu kommen laut Berliner Stadtmission rund 40.000 wohnungslose Menschen; das sind Männer und Frauen, die keinen festen Wohnsitz haben, aber etwa bei Freundinnen oder Freunden unterkommen, in betreuten Einrichtungen oder Notunterkünften leben. Als obdachlos gelten jene Menschen, die - umgangssprachlich - auf der Straße leben. Die Dunkelziffer dürfte weitaus größer sein.

Bei der Berliner Stadtmission finden vor allem wohnungs- und obdachlose Menschen Unterstützung in Form von Bekleidung, Essen und Trinken, aber auch Equipment für ein Leben im Freien: Schlafsäcke, Zelte, Decken, Thermoskannen, Rucksäcke. Vieles davon sind Spenden. Zudem kann psychologische Betreuung in Anspruch genommen werden. Die Diplom- und Notfall-Psychologin Viola Lange ist Ansprechpartnerin bei der Bahnhofsmission am Zoo. Zuvor war sie in einer hessischen Justizvollzugsanstalt tätig, wo sie mit männlichen Untersuchungshäftlingen gearbeitet hat.

Aktuell kümmert sie sich zusammen mit einer Sozialarbeiterin und einem weiteren Psychologen um die obdach- und wohnungslosen Menschen, die sich rund um den Bahnhof Zoo aufhalten. „Wir sind auf der Straße unterwegs, bieten aber auch Beratungen in den Räumlichkeiten des Zentrums am Zoo an“, erklärt Viola Lange. „Ein Großteil unserer Arbeit besteht darin, präsent zu sein und erstmal zuzuhören. Menschen auf der Straße brauchen teilweise viel Zeit, um wirklich Vertrauen zu fassen. Viele von ihnen haben eine lange Leidensgeschichte hinter sich, die sich auch aus negativen Erfahrungen mit Psychiatrien, Ämtern und zwischenmenschlichen Beziehungen speist. Darum versuchen wir, erst einmal über alltägliche Themen überhaupt eine Bindung zu ihnen aufzubauen und zu zeigen, dass wir vertrauenswürdig sind.“

Rund um den Bahnhof Zoo leben sowohl deutschstämmige obdachlose Menschen, aber auch sehr viele aus Osteuropa. Zudem kommen Menschen zur Essensausgabe, die als ‚stadtarm‘ gelten, deren Geld also nicht für einmal für die Grundversorgung reicht. „Sie sind nicht obdachlos, aber suchen bei der Bahnhofsmission die Begegnung mit anderen Menschen und sind dankbar für eine Mahlzeit“, so die Psychologin, die selbst neben Deutsch auch noch Englisch, Französisch und Spanisch spricht. „Bei polnischen und bulgarischen obdachlosen Menschen hilft mir das aber leider nicht weiter. Die Sprachbarriere ist definitiv oftmals eine Grenze meiner Arbeit. Zum Glück haben wir im Zentrum am Zoo die Möglichkeit, per Videoschalte einen Dolmetscher hinzuzuschalten. Allerdings müssen die Hilfesuchenden es dafür in unsere Räumlichkeiten schaffen.“

Wie viele Menschen betreuen Sie?

Viola Lange: Das kann man so genau nicht sagen. Ich bin unter anderem auch an der Hertzallee unterwegs, dort ist ein sehr beliebter Schlafplatz, wo ich immer mal wieder vorbeigehe. Da leben vielleicht ein, manchmal zwei Dutzend Menschen mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen. Viele kennen mich vom Sehen, weil ich unterwegs grüße und mich nach dem Befinden erkundige. Je nach Situation biete ich an, dass wir uns in einem geschützten Rahmen unter vier Augen unterhalten können, sofern die obdachlose Person ein Anliegen hat, das besprochen werden sollte. Derartige tatsächliche aktiven Beratungen sind jedoch verhältnismäßig selten, mehr als 10 Termine pro Woche sind es eigentlich nie. Der Bedarf ist aber größer.

Woran liegt das?

Viola Lange: Vor allem Menschen mit psychischen Problemen haben vielfältige Erfahrungen mit dem System gemacht, wurden vielleicht zwangseingewiesen, fixiert oder gegen ihren Willen mit Medikamenten behandelt. Das kann traumatisierend sein. Deshalb sind sie selbst bei Beratungsgesprächen sehr zurückhaltend und misstrauisch. Aber auch jene ohne diese Vorgeschichte wurden schon oft von anderen Menschen enttäuscht.

Man muss sich klar machen: Wer in der Obdachlosigkeit landet, hat an einem bestimmten Punkt in seinem Leben derart massive Umbrüche erlebt, dass ihm oder ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Das kann eine von extremer Gewalt geprägte Kindheit sein, aber auch der Verlust des Jobs oder eines geliebten Menschen, ebenso eine schlimme Krankheit. Außerdem können psychische Faktoren wie Depressionen ein Faktor sein, weshalb jemand in der Obdachlosigkeit landet. Die Erkrankung geht mitunter mit einer starken Antriebslosigkeit und Hoffnungslosigkeit einher und ist in der Gesellschaft leider immer noch zu wenig anerkannt.

Manchmal haben die Menschen an irgendeinem Punkt angefangen zu trinken oder Drogen zu konsumieren, was nicht selten zu einem Kontrollverlust im Alltag führt, in dessen Folge Briefe nicht mehr geöffnet und Mahnungen ignoriert werden. Diese Menschen können allein aufgrund ihres Schicksals nicht mehr in der Lage sein, ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie wissen nicht, wo und wie sie Hilfe bekommen oder schämen sich, danach aktiv zu fragen.

Ist es sinnvoll, obdachlosen Menschen Spenden direkt vorbeizubringen?

Viola Lange: Jein. Ich verstehe, dass das in der Regel gut gemeint ist. Aber in dem Moment, wo Mitmenschen in guter Absicht zu einer Schlafstätte hinfahren und Dinge abgeben, hat die obdachlose Person möglicherweise keine Motivation mehr, zu uns zu kommen. Wir können sie dann nicht erreichen und Hilfestellungen geben. Das ist auf sehr vielen Ebenen schade. Hinzu kommt, dass vielfach Sachen abgegeben werden, ohne den Bedarf zu kennen. Vielleicht hat die Person bereits zwei Schlafsäcke. Zu einem dritten sagt niemand nein, aber möglicherweise gibt es ein paar Meter weiter einen Menschen, der gar keinen hat, aber nicht so wahrgenommen wird.

Zugleich ist es so, dass gerade der Standort Zoo als Aufenthaltsort für obdach- und wohnungslose Menschen sehr bekannt ist, weshalb dort viele Spenden abgegeben werden, aber eben nicht bei der Bahnhofsmission direkt. Allerdings gibt es auch an vielen anderen Orten Menschen, die Dinge benötigen – und die können wir nur bedienen, wenn die Spenden bei uns landen. Wer spenden möchte, kann sich also gern an eine unserer Sammelstellen wenden.

Wir kennen viele Bedarfe, können dementsprechend fair verteilen und haben darüber hinaus die Möglichkeit, den obdachlosen Menschen Unterstützung – in meinem Fall psychologische Beratung – anzubieten. Das ist wichtig. Und man sollte auch nicht vergessen, dass es auch für obdachlose Menschen mitunter keine schöne Situation ist, wenn man einfach ungefragt etwas hingelegt bekommt. Das kann etwas sehr herablassendes haben. Ich habe bereits Autos gesehen, aus denen einfach so Zelte und Matratzen abgelegt worden sind, wortlos, mit ein paar Essensresten dazu. Gut gemeint, aber vielleicht nicht immer gut genug durchdacht.

Darf ich denn Essen und Trinken geben?

Viola Lange: Dürfen tun Sie natürlich alles. Meines Erachtens kommt es auf die Situation an. Wenn man die Schlafplätze der Menschen aufsucht, finde ich das genauso schwierig, wie mit den zuvor beschriebenen Sachgegenständen. Man weiß doch gar nichts über diesen Menschen, ob er das mag, was vorbei gebracht wird, was überhaupt sein Bedürfnis ist. Und sie dringen dadurch in eine Privatsphäre ein. Fragen Sie also zuallererst die Person, ob Sie überhaupt etwas braucht oder möchte.

Anders ist es, wenn Menschen Sie in der Bahn ansprechen. Dann kann man natürlich etwas zu essen oder zu trinken anbieten, sollte aber im Hinterkopf  behalten, dass nicht jede beziehungsweise jeder alles mag. Seien Sie also nicht irritiert, wenn der gut gemeinte Apfel abgelehnt wird. Möglicherweise fehlen schlichtweg gute Zähne, um einen Apfel zu essen, oder ihm oder ihr schmecken gar keine Äpfel, oder es wurden zuvor schon drei in die Hand gedrückt. Obdachlose Menschen sind Menschen mit Vorlieben – so wie wir alle.

Grundsätzlich gibt es für  bedürftige Personen in Berlin aber ausreichend Möglichkeiten, sich mit Nahrung und Getränken zu versorgen. Wirklich hungern muss niemand, und das bekomme ich auch von unseren Klientinnen und Klienten zurückgemeldet. Wenn ich beispielsweise in der Bahn angesprochen werde, ob ich eine Spende gebe, kann ich stattdessen auf die tägliche Essensausgabe um 14 Uhr in der Bahnhofsmission am Zoo hinweisen.

Ist es denn okay, jemandem Geld in die Hand zu drücken?

Viola Lange: Das muss man selbst entscheiden. Ganz sicher freuen sich obdachlose Menschen über Geld, weil sie sich damit selbst etwas kaufen können und nicht nur Sachspenden-Empfängerinnen oder -Empfänger sind. Möglicherweise hat die Person große Lust, sich mal etwas Besonderes zu gönnen, eine Pizza vielleicht. Ich habe schon von Klientinnen und Klienten gehört, die sich Geld ansparen und sich ein billiges Zimmer mieten, um ungestört schlafen und duschen zu können. Mit ein bisschen Geld in der Tasche erlangen Menschen in der Obdachlosigkeit ein Stück Selbstbestimmtheit und Freiheit zurück.

Ich kenne aber auch die Vorbehalte vieler Menschen, die kein Geld geben wollen, weil sie die Alkohol- oder Drogensucht nicht unterstützen wollen. Jedoch hat nicht jeder Mensch, der auf der Straße lebt, ein Suchtproblem. Das ist wichtig zu wissen, und man muss sich klar machen, dass das ein Vorurteil sein kann. Ja, viele Menschen haben eine Sucht. Aber nicht alle. Und deshalb sollte man nicht pauschalisieren. Davon abgesehen ist eine Sucht eine Krankheit. Eine Sucht muss befriedigt werden, sonst setzt der Entzug ein, und der ist schrecklich. Insofern finde ich persönlich es in Ordnung, Geld zu geben, wenn Sie das möchten.

Wie spricht man obdachlose Menschen denn am besten an?

Viola Lange: Es erfordert schon ein bisschen Mut, einen fremden Menschen, der auf der Straße lebt, anzusprechen. Generell ist ein einfaches ‚Hallo‘ natürlich gut. Gehen Sie in die Hocke, damit Sie Ihrem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen. Ich stelle mich immer als erstes vor und frage nach dem Namen, weil ich finde, dass das höflich und verbindlich ist. Als nächstes könnten Sie dann Ihre Motivation oder Ihre Gefühle beschreiben: ‚Ich habe Sie hier sitzen sehen und mich gefragt, ob Ihnen womöglich kalt ist.‘ Warten Sie die Antwort ab. Fragen Sie dann ruhig, ob die Person etwas benötigt. Ob sie das, was schließlich geäußert wird, erfüllen möchten, liegt ganz bei Ihnen.

Siezen Sie die Person, das drückt Wertschätzung aus, und davon bekommen obdachlose Menschen nicht immer genug in unserer Gesellschaft. Respektieren Sie auch, wenn die Person nicht mit Ihnen sprechen möchte. Es ist ihr gutes Recht. Ich persönlich halte immer mindestens eine Armlänge Abstand, vor allem weil ich der Person im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu nahe treten möchte, aber auch, um mich zu schützen. Man weiß tatsächlich nicht, wie der oder die Angesprochene reagiert.

Was, wenn ich der Meinung bin, die Person braucht Hilfe?

Viola Lange: In so einem Fall sollten Sie den Menschen zuerst ansprechen und nachschauen, wie es ihm oder ihr geht. Sagen Sie, dass Sie sich sorgen und fragen, ob Hilfe benötigt wird. Fragen Sie, ob die Person es wünscht, dass Sie einen Krankenwagen oder den Kältebus rufen. Lehnt die Person Ihre Hilfe und auch alles Weitere ab, sollten Sie das akzeptieren. Es kann sein, dass er oder sie gerade aus einer Klinik kommt und nicht wieder dorthin zurück möchte.

Sorgen Sie sich dennoch, könnten Sie, falls Sie in der Nähe eines großen Bahnhofs sind, zur Bundespolizei gehen. Und natürlich können Sie auch entsprechende Vereine oder Organisationen anrufen, um die Problematik mitzuteilen, beispielsweise den Berliner Krisendienst oder den sozialpsychiatrischen Dienst. Dann wird im Zweifel jemand vorbei gehen, um nach dem rechten zu gucken. Wenn Sie jedoch davon ausgehen, dass Lebensgefahr besteht, sind Sie natürlich verpflichtet, sofort den Notruf zu wählen.

Muss ich mir Sorgen machen, wenn jemand mit sich selbst spricht?

Viola Lange: Leider beobachten wir seit einiger Zeit, dass psychische Erkrankungen auf der Straße zunehmen, wobei nicht ganz klar ist, was zuerst da war: Die Krankheit oder die Obdachlosigkeit. Wenn jemand laut mit sich selbst spricht, liegt die Vermutung nahe, dass ein Leiden aus dem schizophrenen Erkrankungskreis vorliegt. Möglicherweise hört die Person Stimmen oder hat Wahnvorstellungen. Das allein ist aber kein Grund, sich Sorgen zu machen oder die Person anzusprechen. Sie lebt vielleicht in ihrer eigenen Realität, und das ist vom Grundsatz her erst einmal in Ordnung.

Fragen Sie sich: Ist dieser Mensch durch seinen Zustand unzufrieden oder belastet er sich damit selbst? Wenn Sie nicht den Eindruck haben, dass er leidet, sollten Sie sich keine Sorgen machen. Beobachten Sie jedoch in diesem Zusammenhang eine zunehmende Verwahrlosung und gesundheitliche Gefährdung, wäre das ein typischer Fall, bei dem man Unterstützung einschaltet. Sie könnten anrufen beim Jugendhilfe-Verein Karuna, den Straßensozialarbeitern von Gangway oder bei der mobilen Einzelfallhilfe der Stadtmission. Auf www.berliner-notruf.de finden Sie ebenfalls viele  Ansprechpartner und Telefonnummern. Schildern Sie Ihre Beobachtungen und sagen Sie, wie  und wann der oder die obdachlose Person üblicherweise anzutreffen ist.

Grundsätzlich muss man aber auch mal festhalten, dass der öffentliche Raum allen Menschen zur Verfügung steht – und somit selbstverständlich auch den obdachlosen Personen und zugleich jenen, die psychisch erkrankt sind. Das mag nach einer banalen Tatsache klingen, aber viele Menschen vergessen das manchmal. Jede und jeder von uns hat ein Recht, in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, unabhängig davon, wie viel Geld wir haben, welche Kleidung wir tragen und was unsere Persönlichkeit ausmacht.