Essay

Warum wir die Augen nicht länger vor dem Islamismus verschließen dürfen

Unser Autor findet, die deutschen Debatten über den Iran und den Islamismus sind von Ausgrenzung und Verharmlosung geprägt – und er hat Lösungsvorschläge.

Ali Chamenei ist das religiöse Oberhaupt und „oberster Führer“ des Iran. Die derzeitige Revolution diffamiert er als vom Ausland gesteuert.
Ali Chamenei ist das religiöse Oberhaupt und „oberster Führer“ des Iran. Die derzeitige Revolution diffamiert er als vom Ausland gesteuert.imago

In den Debatten rund um das Thema Islamismus gibt es diesen einen, quasi magischen Satz, der das Problem mit einem Schlag zu lösen scheint. Dieser Satz, der jede Diskussion im Keim erstickt, sobald das Wort „Islamismus“ fällt, lautet: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun.“

Damit konnten sich muslimische Funktionäre in wichtigen Positionen seit Jahren aus der Verantwortung ziehen, wenn es darum ging, Islamismus zu bekämpfen. Er diente jahrelang dazu, die Augen vor diesem Problem zu verschließen. Dass nun auch die deutsche Außenministerin dieses simple Erklärungsmuster nutzt, zeigt, wie weit entfernt wir davon sind, differenziert über Islamismus zu sprechen und entschieden dagegen vorzugehen.

Die Aussage, die Tat habe nichts mit dem Islam zu tun, ist gefährlich.

Mitte September 2022 beginnen die Proteste gegen das iranische Mullah-Regime, nachdem die Kurdin Jina Amini wahrscheinlich durch Polizeigewalt zu Tode kommt. In einer aktuellen Stunde im Bundestag äußerte sich Außenministerin Annalena Baerbock dazu. Sie sagte: „Wenn die Polizei – wie es scheint – eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun. Dann ist das schlicht ein entsetzliches Verbrechen.“ Da war er wieder, dieser magische Satz. Aber diesmal widerspricht er sich so deutlich, dass man ihn nicht mehr retten kann. Die Äußerung Baerbocks zeigt, dass die Sittenpolizei ihre Gewalt eben religiös begründet. Folgerichtig müsste es dann auch heißen, dass das Verhalten der Sittenpolizei nicht nur ein „schlicht entsetzliches Verbrechen“ ist, sondern auch ein islamistisch motiviertes.

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Burak Yılmaz
Burak Yılmaz lebt als selbständiger Pädagoge und Autor in Duisburg, wo er auch seine Jugend verbrachte und auf ein katholisches Gymnasium ging. An den Wochenenden und in den Ferien besuchte er die Koranschule. Später studierte er an der Universität Bochum Germanistik und Anglistik, derzeit durchläuft er eine Ausbildung zum Theaterpädagogen. Yılmaz initiierte das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ und leitet die Theatergruppe „Die Blickwandler“. Sein Buch „Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass“ erschien vergangenes Jahr im Suhrkamp Verlag. Für sein Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus wurde Yılmaz 2018 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Die Aussage, die Tat habe nichts mit dem Islam zu tun, ist gefährlich, weil sie jenen hilft, die ihre Gewalt mit religiösen Gründen rechtfertigen. Denn dieser Satz entpolitisiert die Zustände im Iran, wo das Mullah-Regime jedes Vorgehen gegen die Demonstrierenden mit Religion begründet. Die Regierung propagiert, „im Namen des Islam“ zu handeln. Sie setzt damit eine islamistische Ideologie mit dem Islam gleich und tut genau das, was Islamisten seit ihrer Entstehung tun: ihre fundamentalistische Lesart des Islam als allgemeingültig für alle Muslime (und auch Nicht-Muslime) zu erklären. Daher müssen wir das Phänomen, welches das ideologische Fundament des iranischen Regimes ist, klar benennen: den Islamismus.

Das iranische Regime bezeichnet die Revolution als einen „Krieg gegen Gott“ und stellt die eigene Macht auf eine Stufe mit Gott. Es bedient dabei das islamistische Narrativ der „Gläubigen“ und „Ungläubigen“. So kann es Protestierende als Ungläubige brandmarken und den Zorn seiner Anhänger mobilisieren. Wenn die Herrschaft islamistischer Regierungen wackelt, prophezeit es eine Endzeitstimmung: Entweder unsere Ordnung wird beibehalten, oder es bricht Chaos aus. Auch Feindbilder spielen dabei eine große Rolle. Neben dem Anti-Amerikanismus steht die Auslöschung Israels auf der Agenda. Islamisten nennen die USA den großen und Israel den kleinen Teufel. Dem liegt ein zutiefst antisemitisches Weltbild zugrunde, das man auch regelmäßig auf dem Twitter-Account des religiösen Oberhauptes Ali Chamenei findet. Die Revolution diffamiert er als vom Ausland gesteuert, und er reichert seine Fantasien mit verschwörerischem Judenhass an.

Das Verlangen nach Veränderung reicht tief in die iranische Gesellschaft

Antisemitismus ist im Islamismus ein zentrales Element: Das Weltgeschehen wird häufig als Drehbuch imaginiert, das von Juden geschrieben wurde. Zusammenhalten soll diese Ideologie eine heteronormative und patriarchale Gesellschaft, in der Frauen entrechtet sind und LGBTQI+ als haram, also sündhaft, gelten. Im Iran droht für das Ausleben von Homosexualität die Todesstrafe. Dass diese Gruppen nun gemeinsam auf die Straße gehen, dass die Revolution extrem breit aufgestellt ist, zeigt, wie tief das Verlangen nach Veränderung in die Gesellschaft hineinreicht.

Oktober 2022: Iranerinnen und Iraner protestieren auf den Straßen Teherans, wo die 22-jährigen Jina Amini von der Sittenpolizei festgenommen worden war und anschließend verstarb.
Oktober 2022: Iranerinnen und Iraner protestieren auf den Straßen Teherans, wo die 22-jährigen Jina Amini von der Sittenpolizei festgenommen worden war und anschließend verstarb.AP/Middle East Images

Das iranische Regime behauptet, dass es bei dieser Revolution um einen Aufstand gegen die Religion gehe. Dabei geht es um einen Aufstand gegen religiöse Autoritäten – das ist ein gewaltiger Unterschied. Autoritäten, die ihre fundamentalistische Auffassung des Islam der gesamten Bevölkerung mit Gewalt aufdrücken. Es gibt in dieser Auffassung des Islams keine Vielfalt, keine Glaubensfreiheit für all jene, die nicht glauben wollen. Dafür strikte Regeln und Bestrafungen, wenn man sie nicht befolgt. Diese Auffassung vermittelt das iranische Regime durch Angstpädagogik – in den Medien, in der Öffentlichkeit, per Sozialisation. Kernelemente der Erziehung sind insbesondere das Einprägen von Gehorsam gegenüber religiösen Autoritäten und Furcht vor der Hölle. 

Wir erleben gerade einen historischen Moment. Noch nie wurde so gemeinschaftlich gegen die nun 43-jährige Theokratie rebelliert. Während die Zivilbevölkerung auf allen Ebenen gegen das Regime mobilisiert, bleiben die Debatten in Deutschland über Islamismus oberflächlich und reichen über ideologische Phrasen nicht hinaus. Dass die Kritik am Islamismus häufig nicht differenziert ausfällt, liegt einerseits daran, dass islamkritische Stimmen mit pauschalisierenden Aussagen antimuslimische Vorurteile schüren. Auf der anderen Seite wird Islamismus ignoriert, verharmlost oder gar als Phänomen komplett geleugnet.

Deutsch-muslimische Schüler werden wie Pressesprecher des IS behandelt

Zu erwähnen sind als allererstes islamkritische Stimmen, die die Bedrohung durch den Islamismus mit der durch den Rechtsextremismus gleichsetzen. Wenn wir uns aber anschauen, dass nicht eine Scharia-Partei im Bundestag sitzt mit knapp sechs Millionen Wählerstimmen, sondern die rechtsextreme AfD, werden die Relationen schnell deutlich. Auch die rechtsextremen Straftaten und Morde der letzten Jahrzehnte zeigen, dass die größte Gefahr für unsere Gesellschaft rechts außen liegt. Die Gleichsetzung der Gefahr, die in Deutschland von Islamismus und Rechtsextremismus ausgeht, bagatellisiert, welche Geschichte dieses Land hat.

Insbesondere seit den islamistischen Anschlägen in Westeuropa werden diese islamkritische Stimmen lauter und sind in reichweitenstarken Medien als sogenannte Experten zu Gast. Im Anschluss an diese Anschläge bauen sie ein „Wir und die“-Konstrukt auf. Wir, der aufgeklärte Westen, und die, der zurückgebliebene „Orient“. In diesem Konstrukt müssen deutsch-muslimische Bürger ihre Treue zum Grundgesetz beweisen, obwohl gerade sie aus diesem „Wir“ ausgeschlossen werden und unter Verdacht stehen. Im Alltag sieht das Ganze dann so aus: Deutsch-muslimische Schüler erleben, dass sie in der Klasse zu islamistischem Terror Rede und Antwort stehen müssen, als wären sie die Pressesprecher des Mullah-Regimes, der Taliban oder des IS. Es kommt schnell zu Pauschalisierungen, weil die Trennlinie zwischen Islamisten und ganz normalen Bürgern verschwimmt.

Dass es vielen islamkritischen Stimmen nicht um die Bekämpfung des Islamismus geht, sondern um das Schüren eines allgemeinen islamischen Feindbildes samt dazugehöriger Ressentiments, sieht man daran, dass diese Stimmen schweigen, wenn islamistische Terrororganisationen Anschläge in Asien oder in Afrika verüben. Denn die Anteilnahme und die Empörung orientiert sich nicht daran, dass es wieder einen islamistisch motivierten Anschlag gab, sondern daran, wer die Opfer sind, ob sie „so aussehen wie wir“. Dabei ist der Islamismus eine weltweite Bewegung, und wenn wir ihn ernsthaft bekämpfen wollen, müssen wir global denken und handeln.

Identitätspolitisch gefärbte linke Kreise schweigen zum Iran

Das geschieht auch in linken Kreisen nicht konsequent genug. Es kommt nicht selten vor, dass der Islamismus als reine Reaktion auf globale Ungerechtigkeiten verharmlost, dass seine menschenverachtende Ideologie geleugnet wird. Wenn aus diesen Kreisen islamistische Bewegungen als Verlierer des Kapitalismus verharmlost oder gar als Widerstandsgruppen romantisiert werden, wird verkannt, dass Hunderttausende Menschen von den Islamisten verfolgt und ermordet wurden. Dass Islamismus weder Widerstand noch Romantik bedeutet, zeigt der kaltblütige Völkermord des IS an den Yeziden im Jahr 2014. Islamismus ist keine Reaktion, sondern eine Weltanschauung, eine Überzeugung – und eine Entscheidung.

Der Islamismus hat eine lange Entstehungsgeschichte. Wir dürfen nicht ignorieren, dass es innerhalb verschiedenster Communities – wie der iranischen, kurdischen oder yezidischen – ein generationsübergreifendes Wissen und Widerstandtraditionen gegen Islamismus gibt. Man muss ihre Erfahrungen ernstnehmen und dieses Wissen nutzbar machen.

Im Kampf gegen Islamismus warten diese Communities vergebens auf eine breite Solidarität. Was man eher bekommt, ist selbstzentrierte Bevormundung und viel Belehrung, als hätte man in seiner eigenen Familie keine von islamistischer Gewalt Betroffenen. Oder aber befremdliches Schweigen, wie man es vor allem zu Beginn der Revolution im Iran gerade bei der antiimperialistisch und identitätspolitisch gefärbten Linken beobachten konnte.

Die westlichen Länder verlieren an Ansehen und Glaubwürdigkeit

Um Islamismus zu bekämpfen, brauchen wir einen Weg raus aus simplen, konsequenzfreien Phrasen. Wir brauchen ein Ende stigmatisierender und relativierender Debatten sowie mehr Verständnis dafür, dass der Islamismus eine lange Gewaltgeschichte hat und die Vielfalt im Islam zerstören möchte. Wir brauchen differenzierte und lösungsorientierte Ansätze, die das Wissen der betroffenen Communities wertschätzen und davon lernen. Ohne sie können wir weder fundiert über Islamismus sprechen, geschweige denn ihn bekämpfen – auch hier in Deutschland.

Schon in Afghanistan haben Deutschland und seine Verbündeten die Zivilbevölkerung den Taliban überlassen. Nun droht sich das Ganze durch Verdrängen und Wegschauen im Iran zu wiederholen. Die westlichen Länder haben an Ansehen und Glaubwürdigkeit verloren, weil ihre wertegeleitete Außenpolitik zu häufig aus Lippenbekenntnissen besteht. Diese Außenpolitik schwächt islamistische Regime nicht, sondern stärkt sie. Auch weil wir ihre wichtigsten Handelspartner bleiben. Während wir meinen, Haltung und Zivilcourage erfunden zu haben, zeigen uns die Menschen im Iran, wie man diese Werte in die Tat umsetzt. Wir können von ihnen lernen, was es bedeutet, für Freiheit und Menschenrechte zu kämpfen.