Berlin-Es wird voraussichtlich eines der ikonischen Fotos dieses Krieges werden: Die prachtvolle Oper von Odessa, geschützt durch eine fast absurd provisorisch erscheinende Barrikade gegen den möglichen Angriff der russischen Armee. Ein 1887 nach den Plänen der Wiener Architekten Helmer & Fellner eingeweihter neubarocker Bau ist da zu sehen, der sofort sehr vertraut erscheint: Die im weiten Sinn an der österreichischen Architektur des 18. Jahrhunderts orientierte prachtvolle Fassade mit Bogenreihen und ionischen Säulen, kupfergrün glänzendem Dachaufbau, dem Triumphbogen-Portal, üppigen Foyers, Treppenhäusern und Zuschauersaal.
All das ist uns so vertraut. All das sind Zeichen der westeuropäischen Repräsentations- und Theaterbaukunst des späten 19. Jahrhunderts, wie man sie auch in Wien, Paris, Dresden, Frankfurt, Krakau oder Stockholm findet. Es ist oft so bei den aktuellen Schreckensbildern aus der Ukraine: Die Architekturen, die Städte, die Landschaften im Hintergrund des Krieges erscheinen, als seien sie in der unmittelbaren Nachbarschaft aufgenommen worden.
Als würde die eigene vertraute Welt zerbombt
Ein winterlicher Birkenwald in der Ukraine unterscheidet sich nicht sehr von einem in Brandenburg, ein Plattenbau-Viertel in Mykolajiw scheinbar kaum von einem in Rostock, die barocken Fassaden in Lviv oder die Formen der stalinistischen Verwaltungspaläste von Kiev und Charkiv sind vertraut aus Österreich, Thüringen, Warschau oder Ost-Berlin. Die Bilder von den Verheerungen, die russische Bomben in ukrainischen Wohnvierteln anrichten, die Auslöschung der modernen Großstadt Mariupol ist unmittelbar vorstellbar bei einer Fahrt vom Alexanderplatz über die einstige Stalinallee, durch Friedrichshain und hoch nach Marzahn.

Es ist auch diese Möglichkeit unmittelbarer Identifikation, die derzeit die Hilfsbereitschaft für die Ukraine aktiviert: Die Zerstörung der islamisch geprägten, dichten Altstadt Aleppo war schrecklich, blieb aber fern, weil wir die Bilder meistens nur generell lesen konnten. Mariupols drohender Untergang dagegen ist sehr nah, weil wir Wohnhäuser sofort von Postämtern, Supermärkten oder Theatern unterscheiden, Straßen und Plätze mit Bürgersteigen und Laternenmasten unmittelbar als eigene Welt sehen können.
Wir schauen mit Putins Augen auf die Ukraine
Dabei beherrschen immer noch die zum Klischee geronnenen goldenen Kathedralen von Kiew unser Bild der Ukraine, auch die als habsburgisches Idyll vermarktete Altstadt von Lviv, die gewaltigen Staudammbauten der sowjetischen Zeit oder eben um die internationale Hafenstadt Odessa mitsamt Panzerkreuzer-Potemkin-Treppe. Für Moderne-Fans mag noch das konstruktivistische Derschprom-Gebäude von Charkiw aus den 1930er-Jahren dazukommen. Aber all das gilt russischer Kultur und kaum als ein besonderer ukrainischer Beitrag zur Architektur.

Erstaunlicherweise machen selbst die Architektur- und Kunstwissenschaft, die etwa die klassischen Traditionen in der stalinistischen Baukultur oder russische Landschaftsmalerei längst als ihr Thema entdeckt haben, um die Ukraine immer noch einen weiten Bogen. Das mag wohl auch religiöse Gründe haben: Das vom Katholizismus, von der Reformation und der Aufklärung geprägte West-Europa hat sich schon im 18. Jahrhundert als „modern“ scharf abgegrenzt von jenem christlichen „Osteuropa“, das orthodox und byzantinisch geprägt sei, zwar seelenvoll und stark in der Volkskunst, aber eben auch traditionsverhaftet und autoritätshörig.
Eine Ukraine, die seit ihrer erneuerten Unabhängigkeit 1991 einen demokratischen Staatschef-Wechsel nach dem nächsten absolviert, passt da viel weniger ins Bild „des Ostens“ als etwa Russland mit seinem Dauerpräsidenten Wladimir Putin. Also werden die mittelalterlichen Kathedralen und die herrlichen Ikonen der Kiewer Schulen bis heute meistens als Teil der Kunst- und Architekturgeschichte eines „alten Russland“ gesehen, nicht als Zeugnisse einer eigenen Entwicklung der Kiewer Rus.

Herausragend ist da der schon 2015 erschienene, als Handbuch geschriebene „Architekturführer zu Kiew“ von Peter Knoch und Heike Maria Johennig.
Lustig, skurril und detailreich zeigen Yevgen Nikiforov und Polina Baitsym in „Ukraine. Art for Architecture“ die zwischen 1960 und 1980 üppig blühende Kultur von Mosaiken an öffentlichen Bauten wie Konzertsälen, Kulturzentren, Bushaltestellen oder Schulen.
Und prachtvoll blättert es sich im Bildband „Soviet Modernism. Brutalism. Post-Modernism“ von Alex Bykov und Ievgeniia Gubinka zur sowjetischen Architektur zwischen 1955 und 1991, vom Neubeginn des Modernismus unter Chruschtschow bis zu einigen Exzessen der Postmoderne.
Anders gesagt: Wir sind immer noch beherrscht von dem russozentrischen Bild der Geschichte Osteuropas, das seit Peter dem Großen über alle seine Nachfolger bis hin zu Putin konstruiert wurde. Übersehen wird dabei, dass sich die Ukraine, wie der Historiker Andreas Kappeler schon seit der Mitte der 1990er-Jahre nicht müde wird zu erzählen, anders entwickelte, eine eigene Identität erhalten konnte – weil sie so nahe am Westen und Süden Europas liegt, mit dem Meer zur Welt hin offen ist, einer mithin sehr diversen Welt aus Krim-Tataren, Polen, Juden, Ungarn, Rumänen und einst auch den deutschen Minderheiten.
Der eigene Weg der Ukraine in die Moderne
Aber Kappelers „Kleine Geschichte der Ukraine“ von 1994 oder seine brillante Analyse „Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ von 2017 (beide im Beck-Verlag erschienen) wurden offenkundig nur wenig gelesen. Stalins Diktum „Sozialistisch im Inhalt und national in der Form“ wurde nicht nur in den baltischen Staaten, sondern auch in der Ukraine im Wiederaufbau nach den schrecklichen Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs genutzt, um einen eigenen Weg in die Zukunft zu skizzieren. Immer wieder fragt man sich: Wie konnte diese Vielfalt, diese Lust an üppigen Formen und reichen Farben bisher so gar nicht wahrgenommen werden „im Westen“?
Die Nicht-Kenntnis von Theaterbauten und Universitäten mit ihren kraftvollen Betonformen, von gut geplanten Städten und dicht umbauten Plätzen oder locker-modernistisch gefügten Wohnvierteln, wie sie derzeit in Mariupol oder Charkiv zerbombt werden, als auch die westliche Ignoranz vertragen sich mit dem Klischee vom einheitlichen, auf Russland orientierten Osteuropa. Und das wiederum wollen wir dann einfach für vernachlässigbar halten. Aber es ist ein falsches Bild. Wir sollten nicht länger mit den Augen Putins und seinem fatalen Geschichtsverständnis auf die Ukraine schauen. Auch diese Erkenntnis gehört zu den Lehren des Kriegs.

