Er ist selten, dass es in einer Pressekonferenz Applaus gibt. Am Montag bei der Vorstellung des neuen Buches von Thilo Sarrazin war das der Fall. Das lag daran, dass der Verlag außer Journalisten auch noch Gäste eingeladen hat, die sich in den vergangenen Jahren nicht gerade als Anhänger des woken links-grünen Spektrums hervorgetan haben, zu denen man offenbar einen großen Teil der Medien rechnet. So waren unter anderem der frühere CDU-Politiker Arnold Vaatz und der Kolumnist Harald Martenstein im Publikum. Die Pressekonferenz geriet aber ohnehin eher zur Diskussion.
Der frühere Berliner Finanzsenator hat noch mit jedem seiner Bücher beträchtliches Aufsehen erregt. Der Abgesandte seines Verlages bezeichnete ihn als den erfolgreichsten Sachbuchautor in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit seinen Thesen zu angeblich integrationsunwilligen türkischen und arabischen Zuwanderern war Sarrazin bereits in seiner Zeit als Senator angeeckt. Später erzielten seine Bücher wie das 2010 erschienene „Deutschland schafft sich ab“ Spitzenauflagen, führten nach langen Querelen aber auch zu seinem Rauswurf aus der SPD vor ziemlich genau zwei Jahren.
Mit auf dem Podium saß am Montag der Schriftsteller Uwe Tellkamp, der ein Eingangsreferat über Sarrazin hielt. Tellkamp hatte im März 2018 bei einer Diskussion im Kulturpalast Dresden zur Flüchtlingskrise 2015 erklärt, dass die meisten nicht vor Krieg und Verfolgung flüchteten, sondern nach Deutschland kommen, um in die Sozialsysteme einzuwandern, womit er eine ähnliche Debatte in den Medien auslöste wie Sarrazin.
Tellkamp war eigens aus Dresden angereist und redete sich gleich zu Beginn über die Politik der „Schwampel“ derart in Rage, dass alles, was Sarrazin danach sagte, gemäßigt und geradezu begütigend klang, zumal dieser sich überdies noch als Optimisten beschrieb. „Die SPD vertritt die Interessen eines woken, Latte macchiato süffelnden Prenzlauer-Berg-Prekariats“, polterte Tellkamp. Die Gesellschaft werde ungestraft mit Phantomen eingeschüchtert, so Tellkamp in Bezug auf die Corona-Pandemie. Die Menschen wüssten nicht, wie sie im Winter ihre Wohnung warm kriegen sollten, doch die Grünen versuchten die ganze Welt zu retten.
„Nicht alles, was die Ampel unternimmt, ist unvernünftig“, hielt Sarrazin freundlich dagegen. Er sieht sogar bei den Grünen die fähigsten Politikerinnen und Politiker der Republik, wenn auch der Umstieg allein auf erneuerbare Energien in einem Industrieland wie Deutschland eine Illusion sei. Dennoch habe vor allem die SPD die falsche Richtung eingeschlagen. Sie gehe von der völlig falschen Prämisse aus, dass sich alle Probleme lösen, wenn es in Deutschland keine soziale Ungleichheit mehr gibt.
Das letzte Kapitel seines Buches widmet der 77-Jährige dem Koalitionsvertrag und den aus ideologischer Prägung begangenen Irrtümern darin. Es geht um Gendersprache und die grüne Familienpolitik und vor allem um die laut Sarrazin übertriebene Betonung der sozialen Ungleichheit in Deutschland. Und um die Migrationspolitik, die laut Sarrazins Einschätzung einen „Sogeffekt auf Einwanderung aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten“ haben wird. Da ist das Wort: Einschätzung. Ist sie nun zutreffend oder nicht? Darüber kann man geteilter Meinung sein.
Ein zorniger Uwe #Tellkamp stellt in Berlin das neue Buch von Thilo #Sarrazin vor. Es wird eine mit sarkastischem Humor gespickte "Laudatio auf einen Unbequemem". pic.twitter.com/H0qTHtOmKU
— Christian Grimm (@Grimm_Christian) August 22, 2022
Allerdings nicht, wenn man Sarrazin folgt. Sein neuer Band heißt „Vernunft und ihre Feinde“ und soll laut Untertitel „Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens“ offenlegen. Wer dem anderen aber einen Irrtum nachweist, hat recht. Und Sarrazin möchte recht behalten, auch gegenüber der SPD, der Partei, in die er heute nicht mehr eintreten würde, wenn er noch mal jung wäre, mit der er aber irgendwie auch nicht ganz fertig ist. So stellt er im Buch fest: „Mein Ausschluss erfolgte nicht, weil meine Analysen sachlich falsch gewesen wären – die Frage danach interessierte niemanden –, sondern weil die Art der Fragestellung und deren sachliche Resultate nicht zum vorgefertigten linken Denkschema passten.“
Nun also die Beschäftigung mit der Vernunft – und ihren Feinden. „Das Buch beinhaltet genau das, was ich sagen wollte“, erklärte Sarrazin, und das ist schon mal eine gute Nachricht. Denn so ist die These vom verengten Meinungskorridor in diesem Land im Grunde widerlegt.
Wobei Sarrazin für sich in Anspruch nimmt, mit kritisch-rationalem Blick auf die Dinge zu blicken und somit im Begriff der Wahrheit zu sein. Aber ist er damit nicht genauso ideologisch wie jene, denen er das vorwirft? Diese Frage wurde Sarrazin gleich zu Beginn gestellt. „Natürlich kann man nicht standpunktfrei sein“, räumte er ein. Er versuche aber nach Max Weber seinen Standpunkt objektiv zu überprüfen.




