Die Recherchen der Berliner Zeitung zu den Ursachen der Umweltkatastrophe in der Oder laufen auf Hochtouren. Nach wie vor ist nicht klar, welche Ursache für das Fischsterben im Einzelnen verantwortlich ist. Erste Laborergebnisse wurden von deutschen Behörden am Dienstag vorgestellt. Die Werte seien allerdings nicht besorgniserregend, teilte der Sprecher des brandenburgischen Umweltministeriums, Sebastian Arnold, der Deutschen Presseagentur mit. „Die noch nicht vollständigen und noch nicht umfassenden und abgeschlossenen Untersuchungen zu Nährstoffen lassen bisher keine Hinweise auf eine singuläre Ursache für das Fischsterben in der Oder zu“, sagte Arnold. „Weiterhin werden hohe Salzfrachten und ein hoher Sauerstoffgehalt festgestellt.“
Die Deutsche Presseagentur meldete nun aber am Mittwoch, dass eine Alge im Verdacht stehe, für das Fischsterben verantwortlich zu sein. Die Mikroalge mit dem Namen Prymnesium parvum sei identifiziert worden, sagte der Gewässerökologe Christian Wolter der dpa. „Die Art ist bekannt dafür, dass es gelegentlich zu Fischsterben kommt.“
Ebenso das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei meldete sich mit einer Pressemitteilung zu Wort: „Die Algenart kommt eigentlich ausschließlich im Brackwasser vor und benötigt erhöhte Salzgehalte, die es auf der betroffenen Oderstrecke natürlicherweise überhaupt nicht gibt. Allerdings konnten am offiziellen Messpegel des Landesamts für Umwelt in Frankfurt an der Oder seit rund zwei Wochen massiv erhöhte, unnatürliche Salzfrachten gemessen werden, die ihren Ursprung stromaufwärts haben müssen. Das Massenwachstum der Algen bewirkte auch deutlich erhöhte Messwerte bei Sauerstoff, pH und Chlorophyll. Im oberen Teil der Oder und ihren Nebenflüssen befinden sich viele Staustufen, wo es gerade unter den aktuellen Niedrigwasserbedingungen kaum Wasseraustausch gibt. Sollte in diesen Stauhaltungen aufgrund von industriellen Einleitungen stark salzhaltiges, warmes und nährstoffreiches Wasser längere Verweilzeiten gehabt haben, käme das einem Bioreaktor für die Zucht von Brackwasseralgen gleich“, erläutert IGB-Wissenschaftler Dr. Jan Köhler, der zu Algen forscht.
Auch, wenn es sich bisher nur um einen Zwischenstand bei der Ursachenforschung handelt, verweisen die IGB-Forschenden auf grundsätzliche menschengemachte Probleme an der Oder, die das Risiko für Umweltkatastrophen erhöhen. „Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass mehrere schädliche Faktoren zusammengekommen sind“, erklärt Dr. Christian Wolter, IGB-Fischökologe und Oder-Experte. „Der Klimawandel ist menschengemacht, wir werden Dürrephasen mit viel zu niedrigen Pegeln, geringen Sauerstoffwerten und viel zu hohen Wassertemperaturen immer häufiger erleben. Bei Niedrigwasser entsteht dann eine Aufkonzentrierung, denn schädliche Substanzen werden in viel geringerem Wasservolumen transportiert. Dieser Extremzustand stresst die Fischgemeinschaften sehr. In diesen Phasen geht es bereits für viele Tiere ums Überleben — kommen zur bestehenden Belastung dann zum Beispiel weitere Gefahren wie toxische Algenblüten oder chemische Verunreinigungen hinzu, kann das schnell ganze Ökosysteme in Gewässern vernichten“, erklärt Dr. Tobias Goldhammer, der am IGB zu Stoffkreisläufen forscht.
Die Quecksilberbelastung des Wassers scheint also nicht der Grund fürs Fischsterben gewesen zu sein. Nach wie vor wird recherchiert, ob eventuell Chemieabfälle aus Polen, die vielleicht ins Wasser geleitet wurden, der Auslöser für das Fischsterben waren und für die Entstehung einer hohen Konzentration der Alge oder anderer Giftstoffe. Auch ein Kohlekraftwerk in der Nähe von Opole steht im Verdacht, mit der Umweltkatastrophe in Verbindung zu stehen sowie auch zwei Papierfabriken in Polen. Experten und Umweltanalysten halten ein singuläres Chemie-Unfall-Szenario aktuell für eher unwahrscheinlich oder deuten in Gesprächen mit der Berliner Zeitung darauf hin, dass allein ein Chemieunfall eine derartig große Katastrophe wohl kaum herbeigeführt hat. Vielmehr gebe es wohl einen multikausalen Zusammenhang.
Christian Tebert etwa von Ökopol, einem Institut für Ökologie und Politik in Hamburg, schreibt, dass Quecksilber erst in hoher Konzentration zum Fischsterben führt. Der Wissenschaftler teilt der Berliner Zeitung per E-Mail mit: „Sediment ist in der Oder durch die Ausbaggerung in letzter Zeit vermehrt aufgewirbelt worden, was Ursache der erhöhten Quecksilberbelastung der geborgenen Fische sein dürfte. Fische (wie der Mensch) sterben erst bei extremen Quecksilbereinnahmen. Die größte Gefahr liegt für Mensch und Tier (auch für Vögel, die sich vom Fisch ernähren) in der Behinderung der Gehirnentwicklung von Feten und Säuglingen/Jungtieren.“
Noch ist die Fehleranalyse nicht abgeschlossen
In einer der größten Tageszeitungen Polens, der Gazeta Wyborcza, wurden am Dienstag sechs Möglichkeiten diskutiert, die zum Fischsterben geführt haben könnten. Dabei wird dort als am wahrscheinlichsten jene Theorie vorgestellt, die von einem multikausalen Zusammenhang ausgeht. Dies ist die Hypothese der Biologin Dr. Marta Jermaczek-Sitak: „Wir haben Industrieanlagen in Schlesien, darunter Bergwerke. Es gibt Papierfabriken, Chemiewerke, die illegal und regelmäßig Substanzen in die Oder abfließen lassen. Je weniger Wasser die Oder hat, desto gravierender können solche Kreisläufe für die Umwelt sein. Wir haben an vielen Stellen an der Oder, von Oberschlesien bis zur Warthemündung, Regulierungsarbeiten an der Oder, bei denen Bagger die Boden-Sedimente auf dem Odergrund aufbrechen. Dort kann man die gesamte Geschichte der Verschmutzung der Oder ablesen. Auf dem Grund befinden sich große Mengen an Schwermetallen, darunter Quecksilber. […] Solange niemand die Sedimente bewegt, ändern sich die chemischen Parameter des Wassers nicht und es passiert nichts. […] Noch gibt es mehr Fragen als Antworten. Aber alles deutet darauf hin, dass die derzeitige Umweltkatastrophe an der Oder durch jahrelange Zerstörung von Natur und Umwelt – lokal und global – verursacht wurde.“
Die Theorie über die giftige Algenart als Ursache für das Fischsterben lancierte das Portal rbb24.de am Mittwochmorgen. In dem Bericht heißt es: „Forscher des Berliner Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei halten dies nach derzeitigem Erkenntnisstand für die wahrscheinlichste Ursache der Katastrophe. Damit würde sich der hohe Sauerstoffgehalt trotz hoher Temperaturen erklären, sagte der Gewässerökologe Christian Wolter dem rbb. Völlig unklar ist nach Ansicht der Wissenschaftler jedoch, welche äußeren Umstände die vermutete Algenblüte ausgelöst haben könnten.“ Dann heißt es weiter: „Auch der Gewässeranalytiker Wolf von Tümpling vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Magdeburg hält die Algen-These für plausibel, könnte sich aber auch andere Ursachen vorstellen. Vor allem der hohe Salzgehalt gibt den Forschern weiter Rätsel auf. Hier dürften illegale Einleitungen von Stoffen eine Rolle spielen. Belegt sei diese Theorie aber (noch) nicht.“
Noch ist die Fehleranalyse nicht abgeschlossen. Es könnte ebenso gut sein, dass ein Giftanschlag zur Umweltkatastrophe geführt hat. Die deutschen Behörden gaben an, dass sie die Öffentlichkeit fortlaufend über neue Ergebnisse informieren werden.

