Berliner Zeitung: Frau Guérot, in Frankreich gingen am Wochenende erneut Hunderttausende auf die Straßen, vor allem in Paris. Worum geht es bei den Protesten, neben dem Protest gegen die Impfpflicht?
Ulrike Guérot: Mehrere Dinge spielen zusammen. In Paris gibt es eine Stadtflucht der Studierenden. Paris ist von jungen Leuten entvölkert, die sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können. Viele leben auf dem Land im Umkreis von Paris. Vom Land kommt auch die Protestbewegung der „Gelbwesten“. Auch wenn die „Gelbwesten“ jetzt längere Zeit nicht demonstriert haben, so waren und sind sie immer noch aktiv. Sie haben sich bisher von niemandem vereinnahmen lassen, von den Gewerkschafen nicht und auch nicht von Marine Le Pen. Das wirkliche Problem Frankreichs ist die wirtschaftliche Lage und, einhergehend damit, die soziale Krise. Frankreich ist heute in einem wirtschaftlichen Zustand wie etwa Italien vor der Krise. Daher gibt es die berechtigte Sorge, dass Marine Le Pen – derzeit bei ca. 48 Prozent in Umfragen – mit ihrem „Rassemblement“ die nächste Wahl gewinnen könnte. Zugleich ist die Regierung irritiert, weil sich die „Gelbwesten“ allen Einordnungen entziehen. Viele haben kalte Füße. Der Einsatz der Polizei war brutal.
Macron war doch eigentlich als Reformer angetreten.
Macron wollte Frankreich von einer präsidialen zu einer parlamentarischen Demokratie umwandeln. Mit diesem Plan ist er leider trotz seines Versuches der Bürgerdialoge nicht weit gekommen. In Frankreich trifft der soziale mit einem historischen Verfall der Institutionen zusammen. In den 60er-Jahren wurde demonstriert und gewählt. Die Kommunisten zum Beispiel waren auf der Straße, aber sie haben sich auch der Wahl gestellt. Die Wahlbeteiligung in Frankreich lag jetzt bei den Regionalwahlen nur bei 30 Prozent. Das bedeutet, die Leute glauben nicht mehr an ein demokratisches System. Man geht nicht mehr wählen, man geht nur mehr auf die Straße.
Die Idee einer Impfpflicht dürfte die Begeisterung für die Demokratie auch nicht gerade erhöhen?
Es gibt einige, die sagen, Macron gehe es nicht originär um die Impfpflicht. Sondern er habe das Thema gesetzt, um die moderate Rechte zu spalten, also eher wahltaktische Interessen. Sein größtes Problem: Macrons Bewegung „La République en Marche“ hat keine wirkliche institutionelle Verankerung in der französischen Provinz, um eine Wahl zu gewinnen. Seine Regierung ist eine „Schönwetterregierung“, man nennt es „le Bloc Bourgeois“.
Kann das gelingen?
Marine Le Pen hat von der Krise bisher nicht profitiert, wie man bei den jüngsten Regionalwahlen gesehen hat. Die Republikaner haben sich relativ wacker geschlagen. Die Linke wird nicht mehr ernstgenommen. Aber alle haben ein grundsätzliches Problem: Der Unmut ist insgesamt riesengroß. Macron ist in keiner leichten Situation. Die Demonstration am Sonntag in Paris hatte laut offiziellen Zahlen 161.000 Teilnehmer. Das klingt nicht viel. Aber es ist Hochsommer, in dieser Zeit sind die Franzosen auf Urlaub. Man darf vermuten, dass es zu normalen Zeiten viel mehr Leute sein würden. Und allgemein erwartet man in Paris, dass es richtig große Unruhen geben könnte. Die „Gelbwesten“ sammeln sich offensichtlich gerade neu. Ein Freund von mir, der eigentlich kein Pessimist ist, hat mir gesagt, für den Herbst braue sich in Paris etwas zusammen.

Sind solche Demos im Ausnahmezustand eigentlich möglich?
Einer der Punkte, der zu großer Wut geführt hat, war die Verfügung, dass Polizisten nicht mehr fotografiert werden dürfen. Die Pandemie wird genutzt, um die Leute von den Straßen zu holen. So soll Protest gegen den sozialen Zerfall verhindert werden. Das ist ja etwas, was solche Sorgen bereitet: Wenn Le Pen die Wahl gewinnen sollte, braucht sie keinen Ausnahmezustand mehr zu verhängen. Der Weg in den Polizeistaat ist vorgezeichnet. Das spüren die Franzosen auch. Daher wehren sich so viele gegen den „Grünen Pass“, den Gesundheitspass. Sie wollen diese Kontrolle nicht.
Und diesen Protest kanalisieren jetzt die „Gelbwesten“?
Die „Gelbwesten“ sind eine ländliche Protestbewegung. Der Protest richtet sich ganz klar gegen Paris, die Zentrale der Macht. Daher ist der Protest auch so gefährlich. Die Leute auf dem Land wurden jahrelang alleine gelassen. Es gibt in Frankreich wenig Mittelstand. Auf dem Land gibt es große infrastrukturelle Probleme, schlechtes Internet, wenige und teure Autobahnen, der TGV fährt nur durch. Paris ist mehr denn je ein Wasserkopf. Die „Gelbwesten“, das sind Bauern, kleine Handwerker, Dienstleister aus den Regionen. Die haben jahrelang keinen Aufschwung gesehen. Nach den Ausschreitungen in den Vororten 2005 wurde dort viel investiert. Zuerst hat Sarkozy zwar gesagt, „Lumpengesindel“, aber am Ende wurden rund 110 Euro pro Kopf in den Brennpunkten investiert. In Lothringen aber zum Beispiel, also am flachen Land, waren es nur etwa sechs Euro pro Person.
Wo steht die Jugend?
Bei den meisten Jugendlichen herrscht das Gefühl: Es muss etwas passieren. Ein Teil der Jugend ist auf der Suche nach einer neuen Linken. Die Protestbewegung von Méléchon spielt dabei keine Rolle mehr. Aber es gibt es erstaunliche Phänomene, zum Beispiel die „grüne Welle“ in vielen Städten. In Lyon, Marseille oder Bordeaux zum Beispiel regieren jetzt eher junge grüne Bürgermeister, in Strasbourg ist es eine 39-jährige Frau.
Wo sind die Gewerkschaften?
Die Gewerkschaften hat Le Pen teilweise erfolgreich aufgesogen. Es gibt viele Überläufer von der ehemaligen Linken. Etwa 30 Prozent der Gewerkschaftsfunktionäre sind bei Le Pen. Es ist ihr gelungen, das Rassemblement zu einer breiten Partei umzubauen: Sie tritt für das Recht auf Abtreibung ein, damit gewinnt sie viele Frauen. Sie geht gegen die Muslime vor und ist pro Israel, sie gewinnt damit die Juden, die wirklich und berechtigterweise Angst haben vor einem überbordenden Antisemitismus. Die Gewerkschaften sollen die Brücke zur Jugend und der Arbeitsplatzsituation schlagen. Le Pen hat, gemessen an der Gesamtbevölkerung, einen überproportionalen Stimmenanteil unter Jugendlichen in der Altersgruppe 18-25.
Wie werden die Proteste im Herbst aussehen?

