Kommentar

Anarchie von oben

In vielen Ländern Europas brodelt es. Es gibt Unruhen. Das europäische Modell von Freiheit und Rechtsstaat steht auf dem Spiel. 

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit CDU-Politikern auf dem 32. Bundesparteitag der CDU in Leipzig, am 22.11.2019.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit CDU-Politikern auf dem 32. Bundesparteitag der CDU in Leipzig, am 22.11.2019. imago

Wir haben viel zu verlieren in Europa. Nirgendwo auf der Welt gibt es ein vergleichbares Gesellschaftssystem, das über mehr als ein halbes Jahrhundert lang Frieden und Wohlstand sichern konnte. Es ist die freiheitliche Demokratie, deren Grundlage die Gewaltenteilung ist. Auf diesem Wege gelang es den Europäern, nationale Feindschaften nicht bloß zu überwinden, sondern in tragfähige Partnerschaften zu verwandeln. Mit der Pandemie wird dieses System auf seine bisher größte Belastungsprobe gestellt. Das europäische System, oft chaotisch, durchaus unvollkommen und nicht immer logisch, ist in seiner Substanz gefährdet.

Die Pandemie, so scheint es, lässt die Stärken Europas als Schwächen erscheinen. Autoritäre Systeme können über Nacht Maßnahmen verordnen. Sie können die Bürgerrechte nach Belieben einschränken. Polizei- und Überwachungsstaat ersticken Widerstand im Keim.

Andersdenkende oder Kritiker werden mundtot gemacht, verschwinden von der Bildfläche – über Nacht. Denunziation ist der Kitt, der Unrechtssysteme im Innersten zusammenhält. Bürokratische Schikanen nötigen die Bürger zum Wohlverhalten. Um sich selbst nicht zu gefährden, misstrauen die Bürger einander und verraten sich gegenseitig. Mitbestimmung, Expertise und Parlamentarismus werden als Fassaden aufrechterhalten. Eine unabhängige Justiz gibt es nicht. Zensur findet statt. Die Würde des Menschen ist eine Frage von Gunst und Willkür. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden ist den Interessen von kleinen Cliquen untergeordnet. Die Macht der Herrschenden ist unantastbar. Der Wille der Machthaber ist unberechenbar. Die Missachtung von kleinsten Vorschriften kann gravierende Folgen haben. Die Vorschriften ändern sich oft über Nacht, manchmal sogar im Nachhinein.

Das europäische System war bisher ganz anders. Europa in seiner heutigen Form sieht sich als ein Leuchtturm für die Achtung der Menschenrechte, die Gewährung von nicht an Bedingungen geknüpfter Freiheit und den Anspruch auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Das Recht ist verständlich, die körperliche Unversehrtheit garantiert. Die Polizei prügelt nicht. In dieser Form wollen die Europäer ein Vorbild für die ganze Welt sein. Doch das Idealbild verblasst – nicht schlagartig, dann würden wir vermutlich aufschrecken und rufen: Halt, unser Modell steht nicht zur Disposition!

Der Prozess der globalen Angleichung verläuft schleichend. Die Veränderungen sind nicht zuzuordnen: Es gibt nicht den identifizierbaren Bösewicht, der zur Rechenschaft gezogen werden kann. Doch die Symptome häufen sich, und das geht schon mehrere Jahre so. Das Problem Europas ist eine Anarchie von oben, an die sich alle gewöhnt haben und von der einige wenige profitieren.

Die Erosion begann mit den fortgesetzten Rechtsbrüchen im Zuge der Finanzkrise, die in eine Euro- und Staatsschuldenkrise mündete. Wer erinnert sich noch an die „Verträge“ von Maastricht, in denen eine Obergrenze der Verschuldung der Haushalte festgelegt wurde? Heute werden Hunderte von Milliarden ausgegeben, ohne dass irgendwer weiß, wohin das Geld geht.

Die aufgeflogenen Masken-Deals oder die Betrugsaktionen bei den Corona-Tests sind aktuelle Beispiele für Verantwortungslosigkeit und schlechte Kontrolle.

Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde zunächst das Schengen-System außer Kraft gesetzt. Heute sind Flüchtlinge und Migranten Menschen zweiter Klasse, deren Ertrinken im Mittelmeer, deren elendes Leben in türkischen „Lagern“ oder auf griechischen Inseln Randnotizen der Geschichte sind.

Schengen aber gibt es trotzdem nicht mehr: Mit der über Nacht eingeführten Testpflicht nach Urlaubsreisen ist de facto eine Visumspflicht für die Rückkehr in das Heimatland eingeführt worden – ein Novum in der Geschichte.

Diese Maßnahme, von der Öffentlichkeit schon routiniert zur Kenntnis genommen, ist zutiefst unsozial: Für eine Familie von Durchschnittsverdienern mit Kindern oder für Studenten und Jugendliche wird die Rückkehr nach Haus zum finanziellen Kraftakt.

Wenn die Tests dann kostenpflichtig sind, wird für Studenten, Arbeitslose oder Bezieher von Niedriglöhnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zum Luxus.

In vielen Ländern brodelt es. Es gibt Unruhen. Viele Menschen zweifeln, manche verzweifeln. Die Regierungen haben den Kontakt zu den Bürgern verloren. Sie versuchen, sich Zeit zu kaufen. Die Schulden steigen. Doch das europäische Modell ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Wir sollten für dieses Europa, seine Werte und seine Ideale kämpfen.