Gedenken im Konzentrationslager

Ukrainisches Holocaust-Opfer: „Dieses Arschloch Putin werde ich auch überleben!“

Bei einer Gedenkfeier im KZ Bergen-Belsen zieht die Shoah-Überlebende Anastasia Gulej Parallelen zwischen dem Holocaust und dem Töten in der Ukraine.

Anastasia Gulej überlebte den Holocaust und floh nun vor den russischen Truppen aus der Ukraine.
Anastasia Gulej überlebte den Holocaust und floh nun vor den russischen Truppen aus der Ukraine.dpa/Julian Stratenschulte

Die 96-jährige Anastasia Gulej nimmt kein Blatt vor den Mund. Warum sollte sie auch? Ein Spruch von ihr verbreitete sich in den sozialen Netzwerken: „Ich habe Hitler überlebt, Stalin überlebt und dieses Arschloch Putin werde ich auch überleben!“ Am Freitagabend steht sie an der sogenannten Verladerampe in Bergen-Belsen und spricht von einem „Genozid an den Ukrainern“. Sie zieht erneut eine Linie zu den Nazis. „Mir fehlen die Worte für das, was die Hitler-Verehrer aus dem Kreml in Butscha und Mariupol angerichtet haben“, sagt die KZ-Überlebende, die vor kurzem aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist.

Anfang April war bekannt geworden, dass russische Soldaten in der Stadt Butscha, einem Vorort von Kiew, Dutzende Zivilisten erschossen haben sollen. Die Gräueltaten in Butscha stehen dabei stellvertretend für viele weitere Vorfälle in der Ukraine. Im belagerten Mariupol gehen die ukrainischen Behörden von mindestens zweitausend getöteten Zivilisten aus.

Gedenken im KZ, in dem Anne Frank verstarb

An der „Verladerampe“ von Bergen-Belsen, die heute zum größten Nato-Truppenübungsplatz in Europa gehört und der weiterhin militärisch genutzt wird, kam Anfang Januar 1945 auch die 19-Jährige Anastasia Gulej an. Mit anderen politischen Häftlingen war sie aus dem KZ Auschwitz in das Lager Bergen-Belsen transportiert worden - mit Gelbsucht. Bis zur Befreiung des Lagers vergingen noch gut vier Monate. „Das scheint aus heutiger Sicht eine kurze Zeitspanne zu sein“, sagt Gulej. „Aber ich kann keine einzige Minute vergessen, die ich hier mit dem Warten auf den Tod verbracht habe.“ In dem Konzentrationslager war auch das wohl berühmteste Opfer der Shoah, Anne Frank, gestorben. Sie starb an einer Infektion. Ihr später gefundenes Tagebuch beschrieb den Alltag von Juden, die sich im von den Deutschen besetzten Niederlanden versteckt hielten.

Als britische Truppen das KZ am 15. April 1945 befreiten, „hatte ich nicht mal genug Kraft, um Freude zu verspüren“. Die Zeitzeugin spricht russisch, eine Dolmetscherin übersetzt ihre Rede. Knapp 100 Besucherinnen und Besucher sind der Einladung der Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen zur Gedenkveranstaltung „Lichter auf den Schienen“ zum 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gefolgt.

Gulej legt selbst Blumen für die Toten des Konzentrationslagers Bergen-Belsen nieder. In dem Lager starb auch Anne Frank.
Gulej legt selbst Blumen für die Toten des Konzentrationslagers Bergen-Belsen nieder. In dem Lager starb auch Anne Frank.AP/Steffi Loos

Bergen-Belsen war schlimmer als Auschwitz

Ein Teil der Rampe wurde im Jahr 2000 auf Antrag der AG Bergen-Belsen unter Denkmalschutz gestellt. 2002 konnte die AG dort einen Waggon als Mahnmal aufstellen. Hier begann damals der Marsch der erschöpften Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge, die unter scharfer Bewachung sechs Kilometer zu Fuß ins Lager getrieben wurden. „Bergen-Belsen war die Endstation für Häftlinge aus allen anderen KZs“, sagt Elke von Meding, Vorsitzende der AG. „Man dachte, der Feind kommt hier nicht so schnell her.“

Seit Jahren ist die Ukrainerin Anastasia Gulej als Zeitzeugin in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt unterwegs. Jetzt, wo sie zwangsweise in Deutschland bleiben muss, nutzt sie die Zeit für Auftritte bei Gedenkveranstaltungen. Erst in Buchenwald, nun am Karfreitag in Bergen-Belsen. Bereits zum 70. Jahrestag der Befreiung hat sie in Bergen-Belsen ihre Geschichte erzählt. Wie sie nach Auschwitz gehofft hatte, es könne nicht mehr schlimmer werden. Doch sie hatte sich getäuscht.

Holocaust-Ueberlebende Anastasia Gulej (Mitte) mit ihrer Tochter Walentyna Gulej, Maik Reichel und Sohn Wassyl Gulej  bei ihrer Flucht nach Deutschland.
Holocaust-Ueberlebende Anastasia Gulej (Mitte) mit ihrer Tochter Walentyna Gulej, Maik Reichel und Sohn Wassyl Gulej bei ihrer Flucht nach Deutschland.epd/privat

Biographie wird um weiteres Kapitel ergänzt

Dass Anastasia Gulej seit Anfang März in Deutschland ist, verdankt sie unter anderem Maik Reichel. Der Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt arbeitet seit langem mit ihr als Zeitzeugin zusammen und ist mit ihr befreundet. Er hat auch ihre Biographie geschrieben, die eigentlich im vergangenen Monat erscheinen sollte. Jetzt muss sie um ein weiteres Kapitel ergänzt werden.

Reichel gehörte zu denen, die der 96-Jährigen immer wieder Hilfe bei der Ausreise anboten. Doch stattdessen verschanzte sie sich zunächst mit ihrer Tochter Walentyna im Keller. Über eine Holzleiter durch eine schmale Öffnung ging es hinab. „Das habe ich einmal gemacht, nie wieder. Es ist zu anstrengend für mich“, sagt Gulej. Als sie wieder herauskamen, sahen sie eine Rakete fliegen. Ihr Haus liegt direkt neben dem Flughafen Shuljany - ein bevorzugtes militärisches Ziel. Schweren Herzens entschied sich Anastasia Gulej gemeinsam mit ihrem Sohn Wassyl und der Tochter Walentyna zur Flucht - nach Deutschland, dorthin, wo sie in jungen Jahren verfolgt wurde.

Zuflucht im Land der Täter gefunden

Sie wollte auch deshalb nicht weg aus der Ukraine, weil Herz und Beine nicht mehr mitmachen. Zur Gedenkfeier in Bergen-Belsen kommt die 96-Jährige mit dem Rollstuhl, gehen kann sie nur am Stock. Den sie auch nutzt, um den Worten ihrer Ansprache Nachdruck zu verleihen. Zurzeit wohnt sie mit ihrer Tochter Walentyna, ihrem Sohn Wassyl und ihrer Katze in einer Ferienwohnung bei Naumburg. Die Stadt ist vor allem als Wohnort des Philosophen Friedrich Nietzsche und als Heim des berühmten Naumburger Domes mit den Werken des Naumburger Meisters bekannt.

Auch ein Klinikaufenthalt war bereits für sie organisiert. Doch den hat Anastasia Gulej erst einmal verschoben. Am 21. April fliegt sie zur internationalen Kunstausstellung Biennale in Venedig. Sie nimmt dort auf Einladung einer ukrainischen Stiftung an einer Podiumsdiskussion teil. Wie sie das alles schafft? Ihre Antwort ist diesmal auch ohne Dolmetscherin verständlich. Sie lächelt, legt den Kopf in den Nacken und tippt sich auf die Nasenspitze. Was so viel heißt wie: Sie trägt die Nase oben und wird sich nicht unterkriegen lassen.