Die Türkei steuert allmählich auf den Wahlkampf zu. Recep Tayyip Erdogan will sich im Juni 2023 als Präsident bestätigen lassen. Allerdings steht seine AKP-Partei in den Umfragen nicht gut da: Die Türkei befindet sich derzeit in einer schweren Wirtschaftskrise, die Inflation ist mit über 79 Prozent so hoch wie seit 1998 nicht mehr. Das mag eine gewisse Nervosität des Autokraten und seiner Administration erklären. Und vielleicht auch den jüngsten, allemal bizarren Skandal um die türkische Schlagersängerin Gülsen.
Die hatte sich nämlich im April einen Scherz auf Kosten von Erdogan erlaubt. Gülsen führte da auf offener Bühne die „Perversität“ ihres Pianisten auf dessen Besuch einer religiösen Imam-Hatip-Schule zurück. Nun sind Imam-Hatip-Schulen staatliche Bildungseinrichtungen. Vor allem aber: Auch Erdogan besuchte dereinst eine solche Schule. Gülsen teilte also gegen den Präsidenten aus und kritisierte die zunehmende Zahl religiöser Schulen und also die Islamisierung der eigentlich laizistischen Türkei.
Gülsen wird „öffentliche Volksverhetzung“ zur Last gelegt
Gülsen Bayraktar Colakoglu, wie die 46-jährige Istanbulerin mit vollem Namen heißt, ist nun aber nicht im April, sondern erst in der vergangenen Woche verhaftet und wenige Tage später in den Hausarrest entlassen worden – unter anderem mit dem Verweis, dass keine Fluchtgefahr bestehe und sie sich um ein Kind kümmern müsse. Ein Antrag auf Aufhebung des Hausarrests wurde am Donnerstag abgelehnt. Der AKP-Sprecher Ömer Celik sprach von einem „Hassverbrechen und einer Schande für die Menschheit“.
Gülsen ist keine leichte Gegnerin. Selbst wenn sie sich nicht unmittelbar politisch äußert, sind ihre Konzerte immer politisch. Sie tritt mit der Regenbogenfahne auf und zeigt sich mit der in der Türkei als „unislamisch“ verfolgten LGBTQ+-Community solidarisch. Und sie ist erfolgreich: 2015 wurde sie die türkische Sängerin mit den meisten Zuschauern auf YouTube und ein Jahr später war sie die erste türkische Sängerin, deren Musikvideo („Bangir Bangir“) über 200 Millionen Mal auf der Plattform angesehen wurde.
Ein starke moderne Frau. Offenbar zu viel für ein strauchelndes Männer-Regime. In der am Freitag veröffentlichten Anklageschrift wird Gülsen „öffentliche Volksverhetzung“ zur Last gelegt und eine Gefängnisstrafe zwischen einem und drei Jahren gefordert.


