Stadtentwicklung

Neuanfang mit Widerworten: 108 Wohneinheiten in Moabit geplant

Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte plant preiswerte Unterkünfte an der Rathenower Straße. Dass sie dafür einen 70er-Jahre-Bau abreißt, stößt auf Kritik.

Das Hochhaus soll stehen bleiben, der Flachbau abgerissen werden: An der Rathenower Straße sollen 108 neue Wohneinheiten entstehen.
Das Hochhaus soll stehen bleiben, der Flachbau abgerissen werden: An der Rathenower Straße sollen 108 neue Wohneinheiten entstehen.Berliner Zeitung/Markus Wächter

„Achtung, Baustelle“ steht auf einem Plakat vor dem Gebäudekomplex an der Rathenower Straße 16 in Moabit. Gefüllte Abfallsäcke liegen vor einem Flachbau. Grüne Container für Bauabfall stehen daneben. Das Ringen um den Erhalt des 1978 fertiggestellten Gebäudeensembles ist entschieden – zugunsten der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM). Sie will das zu dem Gebäudekomplex gehörende Hochhaus stehen lassen, den danebenliegenden dreigeschossigen Flachbau aber abreißen.

„Die Schadstoffsanierung ist bereits abgeschlossen“, sagt WBM-Sprecher Matthias Borowski. „Der Abbruch des Flachbaus steht unmittelbar bevor und wird voraussichtlich bis Ende September andauern.“ Anschließend seien „großflächige Leitungsarbeiten im Boden“ geplant.

Das Nutzungskonzept für die Rathenower Straße 16 steht laut WBM „unter dem Zeichen einer gemeinwohlorientierten Belebung des Quartiers“. Geplant ist, dass vor dem alten Hochhaus ein neuer Quartiersplatz entsteht, der einen barrierefreien Zugang zum Fritz-Schloß-Park bietet. Daneben soll ein u-förmiges Wohngebäude mit einem Hof errichtet werden. Darin sind 91 Wohnungen geplant, darunter sieben sogenannte Clusterwohnungen mit 24 Wohnplätzen.

Gemeinschaftliches Wohnen mit individuellen Rückzugsräumen

Eine Clusterwohnung ist eine Mischung aus einer Kleinstwohnung und einer Wohngemeinschaft (WG). Sie besteht aus abgeschlossenen kleinen Wohneinheiten unterschiedlicher Größe, die im Gegensatz zu einer klassischen WG über ein eigenes Bad und eine Kochnische verfügen. Hinzu kommt ein gemeinschaftlicher Wohnbereich mit einer Wohnküche. So können die Bewohner zusammenkommen, wenn sie mögen, sich aber zugleich auch zurückziehen, wenn sie für sich sein wollen.

Blick in die Zukunft: Neben dem Hochhaus aus den 70er-Jahren (links im Bild) sollen ein Stadtplatz und ein neuer Wohnkomplex entstehen.
Blick in die Zukunft: Neben dem Hochhaus aus den 70er-Jahren (links im Bild) sollen ein Stadtplatz und ein neuer Wohnkomplex entstehen.CKRS Architektengesellschaft mbh

In den geplanten Clusterwohnungen der WBM in der Rathenower Straße sind die jeweiligen Wohneinheiten zwischen 22 und 43 Quadratmeter groß. Auf die Gemeinschaftsflächen je Clusterwohnung entfallen rund 60 Quadratmeter. Den größten Anteil daran haben die Wohnküchen. „Alle Clusterwohnungen der WBM werden barrierefrei geplant“, sagt WBM-Sprecher Borowski. „Damit wird das inklusive Wohnen von Menschen unterschiedlichen Alters sowie mit und ohne Einschränkung flexibel ermöglicht.“

Insgesamt sollen in dem Neubau an der Rathenower Straße 108 Wohneinheiten entstehen. Der Großteil der Wohnungen soll nach Angaben der WBM durch Mittel des Landes gefördert und zu einer Miete von voraussichtlich 6,50 Euro je Quadratmeter Wohnfläche kalt angeboten werden. Bis zum Frühjahr 2026 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Zwischennutzung und Leerstand vor der Umplanung

Der Gebäudekomplex an der Rathenower Straße war 1967 bis 1971 von den Architekten Gerd Neumann, Dietmar Grötzebach und Günter Plessow im Stil des sogenannten Brutalismus geplant worden. Mit der Fertigstellung im Jahr 1978 zog ein Kinder- und Jugendwohnheim mit 156 Plätzen ein. Nachdem „monokulturelle“ Großeinrichtungen in die Kritik gerieten, wurde das Kinder- und Jugendwohnheim nach etwa zehn Jahren geschlossen, heißt es in einer Broschüre der WBM. Die Räume wurden anschließend durch das Jugendamt belegt. Nach dessen Auszug folgte eine „von Zwischennutzung und Leerstand geprägte Phase“. Um 2010 begannen die Planungen für eine neue Nutzung – mit angestoßen durch die gemeinnützige Gesellschaft für Stadtentwicklung, die als Treuhänder Berlins für die Sicherung von Wohn- und Gewerberäumen in der Jugend-, Familien- und Sozialhilfe tätig ist. Die aktuelle Planung ist Ergebnis des damals angestoßenen Prozesses.

Die Präsidentin der Berliner Architektenkammer, Theresa Keilhacker, kritisiert die Pläne. „Ich halte den geplanten Abriss und den Neubau für falsch – aus sozialen, ökologischen und ökonomischen Gründen“, sagt sie. „Der Bedarf für ein Jugendzentrum in Moabit und insgesamt im Bezirk Mitte ist riesig.“ Das ehemalige Kinderwohnheim in der Rathenower Straße eigne sich „mit seinen flexiblen Raumabfolgen äußerst gut für verschiedene soziale Nutzungen, zum Beispiel zum Wohnen für unbegleitete geflüchtete Jugendliche“, so Keilhacker. „Ganz akut wird es für die Unterbringung für ukrainische geflüchtete Familien gebraucht.“ Dafür seien die Räume „sehr geeignet“. Die Kiezküche arbeite nebenan im Hochhaus, das zum Glück stehen bleiben soll, und nach hinten raus, von der Straße abgewandt, gebe es Gärten und Spielmöglichkeiten.

„Ich empfinde es als äußerst problematisch, dass der Bezirk Mitte seine Abrissgenehmigung schon erteilt hat, obwohl die Änderung des Bebauungsplans noch gar nicht alle notwendigen Schritte der Öffentlichkeitsbeteiligung durchlaufen hat“, sagt Keilhacker. Damit würden „hier einfach Fakten geschaffen“. Ohne Not seien bereits Bäume gefällt, das Ensemble mit seinen eleganten Brücken und Streetdecks abgerissen und die intakte Gebäudestruktur teilweise zerstört worden, die „wertvolle graue Energie“ enthalte und „baukulturell identitätsstiftend für das Quartier“ sei. „Zugunsten eines Urbanen Gebiets mit Mischnutzungen aus Gewerbe- und Wohnflächen, aber ohne gesetzlich abgesicherte Nutzungen für ein Jugendzentrum, die es jetzt noch auf der dem Gemeinbedarf gewidmeten Fläche gibt“, so Keilhacker.

Gegenvorschlag setzt auf Sanierung der vorhandenen Bestandsgebäude

„Besser wäre es, das Ensemble nach jahrzehntelang unterlassener Instandhaltung endlich zu sanieren und behutsam mit den sozialen Bedarfen für Jugendliche weiterzuentwickeln“, sagt Keilhacker. „Damit könnten Musikräume, Gärten mit Tischtennisplatten und Urban Gardening-Möglichkeiten erhalten und auf den Dächern eine Solaranlage installiert werden, die Strom für alle Gebäudeteile produziert.“ Bei energetischer Ertüchtigung des Bestandes „würde auf dem Areal auch Geothermie Sinn machen, um fossilfrei zu werden und einen wichtigen Beitrag im Sinne des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes zu leisten“, so Keilhacker.

Die WBM verteidigt die Pläne. „Bei einem Erhalt des Flachbaus und der Errichtung zusätzlicher Baukörper vor den Bestandsgebäuden wäre etwa nur die Hälfte der Mietfläche geschaffen worden, die wir jetzt erreichen“, sagt WBM-Sprecher Borowski. „Auch wäre der Stadtplatz als Ort der Begegnung wesentlich kleiner ausgefallen und hätte bei Weitem nicht die Aufenthaltsqualität und Belebung des Quartiers erreicht, die wir durch die aktuelle Planung schaffen werden.“ Eine barrierefreie Anbindung zum Fritz-Schloß-Park hätte ersatzlos entfallen müssen.

Für die Mieter aus dem Flachbau wurde laut WBM vor dem Abriss gesorgt. Die Moschee „Haus der Weisheit“ sei Ende letzten Jahres in ein Übergangsquartier umgezogen. Zudem habe das HaDeWe im Hochhaus Büros angemietet. Für die Moschee sind laut WBM Flächen im Neubau fest eingeplant. Eine entsprechende Willenserklärung zwischen Moschee und WBM sei von den Beteiligten unterschrieben worden. Das bestehende Hochhaus, das von der WBM an die Gesellschaft für Stadtentwicklung verpachtet ist, soll „revitalisiert“, also saniert werden. Die an dem Standort untergebrachten Mietflächen des SOS-Kinderdorfs, des Vereins SKIP, der syrischen Migranten und Flüchtlinge sowie der Krisenwohnung sind laut WBM „nicht direkt von den Rückbauarbeiten betroffen“.

Mit einer „Marktplatzveranstaltung am 24. September“ will die WBM auf der Baustelle an der Rathenower Straße 16 die Öffentlichkeit über die Pläne informieren.