30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Er sah, wie das Sonnenblumenhaus brannte: „Ich habe damals meine Stadt verloren“

Keine blühenden Landschaften: Mecklenburg-Vorpommern führte in den 90ern Gewalt- und Arbeitslosenstatistiken an. In Rostock entlud sich 1992 der Zorn.

Ein Blick auf das von über hundert Vietnamesen bewohnte Haus neben dem Asylbewerberheim, das am 24. August 1992 von den Randalierern in Brand gesetzt wurde.
Ein Blick auf das von über hundert Vietnamesen bewohnte Haus neben dem Asylbewerberheim, das am 24. August 1992 von den Randalierern in Brand gesetzt wurde.dpa/Jens Kalaene

Holger war 21 Jahre alt, als er seine Heimat verlor. Zwei Jahre nach der Wende. „Irgendwie“, erzählt er am Telefon, „habe ich damals meine Stadt verloren.“

„Damals“, das war das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, 1992 griff ein rechtsradikaler Mob tagelang das „Sonnenblumenhaus“ im Nordwesten der Hansestadt an. Hunderte Rechte warfen Steine und Molotowcocktails, angefeuert von bis zu 3000 applaudierenden Zuschauern. Die Polizei traf zwar ein, zog sich aber rasch wieder völlig zurück. Über 120 eingeschlossene vietnamesischen Vertragsarbeiter konnten aus dem brennenden Haus nur über das Dach fliehen.

„Blühende Landschaften“, das Kohl’sche Wahlversprechen, suchte man in dieser Zeit besonders im Nordosten vergeblich. Mit 12,5 Prozent war die Arbeitslosenquote in Mecklenburg-Vorpommern 1991 fast doppelt so hoch wie im bundesweiten Durchschnitt. Die Treuhand privatisierte die Werften, aus vermeintlichen sicheren Arbeitsplätzen wurde soziale Unsicherheit. Daraus politischer Brennstoff.

Das „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen
Das „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagendpa/Bernd_Wüstneck

Rostocker Sonnenblumenhaus: 1500 Einwohner, 300 Betten

Durch den Zusammenbruch des Ostblocks und den Jugoslawienkrieg flohen gleichzeitig immer mehr Menschen ins wiedervereinigte Deutschland. Die Asylgesuche stiegen von 260.000 im Jahr 1991 schon auf eine knappe halbe Million ein Jahr später, alle Geflüchteten mussten sich zentral registrieren, wurden in Rostock im Sonnenblumenhaus untergebracht. Dort lebten im Sommer 1992 kurz vor dem rassistischen Angriff fünfmal mehr Menschen als es eigentlich Betten gab, viele schliefen notgedrungen auf der Wiese vor dem Haus. Die Wut der Nachbarn über die Zustände stieg, statt auf die Politik wurde auf Asylsuchende geschimpft.

Der gebürtige Rostocker Holger erinnert sich: „Die Stimmung war in dieser Zeit total aufgeheizt, es gab viele Nazis.“ Er kenne fast niemanden, der nicht zusammengeschlagen worden sei. In dieser Zeit, die später als „Baseballschlägerjahre“ bekannt werden sollte. Anfang der 90er-Jahre sei er im Hausflur seiner Eltern zusammengeschlagen worden. An Weihnachten. „Von drei Skinheads. Zwei meinten zu dem dritten ‚Mach das weg!‘. Damit war ich gemeint.“

Rassistische Angriffe gab es in dieser Zeit im ganzen Bundesland. In Mecklenburg-Vorpommern wurden laut der Friedrich-Ebert-Stiftung allein 1992 über 200 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten gezählt. Bundesweiter Spitzenwert. Der Nordosten hatte so 9,3 rechtsextreme Gewalttaten pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: Bremen kam auf einen Wert von 0,29.

Mediale Hetze, mediale Fehleinschätzungen

Das Pogrom wurde auch medial angefeuert: Der Spiegel warnte 1991 vor dem „Ansturm der Armen“, die Bild-Zeitung Anfang 1992 vor dem „Schreckensasylanten“. In der lokalen Ostsee-Zeitung kündigten Rechte bereits Tage vor dem Angriff die geplanten Ausschreitungen an, dabei wurden drei junge Männer zitiert, die rumänische Roma in Lichtenhagen „aufklatschen“ wollten. Doch von möglicher rassistischer Gewalt schrieb man damals nichts. Stattdessen hieß es in einer Bildunterschrift: „Jetzt werden Ungeduldstöne laut“.

Dass es in Lichtenhagen mehr als nur „Ungeduldstöne“ gab, dass es zündelte, bald auch brannte, hörte Holger in Hamburg bei einem Konzert, er fuhr sofort zurück. Die Polizei hatte linke Gegendemonstranten festgenommen, in einer Turnhalle gemeinsam mit Rechtsradikalen untergebracht. Die taz schrieb damals, dass die Autonomen nach eigener Aussage von den Polizeibeamten als „linke Zecken“ beschimpft worden seien. Über Klappfenster der Turnhalle habe Holger seine Freunde dann mit „Genussmitteln, Obst und Leckereien“ versorgt.

Ein Mann steht am 27.08.1992 vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen.
Ein Mann steht am 27.08.1992 vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen.dpa/Bernd Wüstneck

Nach Lichtenhagen: Kaum Verurteilungen, aber schärferes Asylrecht

Rostock-Lichtenhagen war ein Erfolg für die Rechten, die allermeisten Beteiligten kamen straffrei davon. Stattdessen wurde das Asylrecht verschärft. Ende 1992 beschloss die schwarz-gelbe Bundesregierung mithilfe der SPD den sogenannten Asylkompromiss, die Drittstaatenregelung war geboren. Politisch Verfolgte, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, haben seitdem keine Möglichkeit mehr, in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt zu werden.

Der damalige mecklenburgische Innenminister Lothar Kupfer (CDU) sagte dem WDR kurz nach dem rassistischen Angriff auf das Sonnenblumenhaus: „Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl an erster Stelle steht.“

Doch Holger, der gebürtige Rostocker, fühlte sich unsicherer. Zwei Jahre nach Lichtenhagen verließ er seine Heimat, kehrte nie zurück.