Europa

„Kontrollverlust“: Versuch der Ausgrenzung einer Partei krachend gescheitert

Österreichs Bundeskanzler tritt zurück. Nun steht Herbert Kickl vor dem Sprung ins Kanzleramt. Das Chaos ist ein Lehrstück für Friedrich Merz in Deutschland.

Wien: Alice Weidel (r.), AfD-Fraktionschefin, und Herbert Kickl, FPÖ-Chef, nehmen im Jahr 2023 an einer gemeinsamen Pressekonferenz teil.
Wien: Alice Weidel (r.), AfD-Fraktionschefin, und Herbert Kickl, FPÖ-Chef, nehmen im Jahr 2023 an einer gemeinsamen Pressekonferenz teil.APA

Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer hat am Samstagabend auf X überraschend seinen sofortigen Rücktritt vom Amt und als Parteichef bekannt gegeben. Zuvor war er mit dem Versuch gescheitert, die Wahlsiegerin FPÖ durch eine Koalition mit den Sozialdemokraten (SPÖ) und der wirtschaftsliberalen Partei Neos auszubremsen. Die ÖVP hatte nach ihrem Wirken in einer schwarz-grünen Koalition elf Prozent verloren, auch die Grünen und die SPÖ, die seit der Corona-Zeit eine ähnliche Oppositionsstrategie gefahren hatte wie die CDU in Deutschland, hatten deutlich verloren.

Nehammer hatte trotz seiner Niederlage erklärt, niemals in eine Regierung mit der extrem rechten FPÖ unter ihrem Vorsitzenden Herbert Kickl einzutreten. Auch alle anderen Parteien hatten eine Zusammenarbeit mit der FPÖ abgelehnt. Die Medien bekämpfen die FPÖ seit Jahren und warnen vor einer Rückkehr des Nationalsozialismus. Die ausländerfeindlichen Töne der FPÖ sind seit Jahren schriller als jene der AfD in Deutschland. Wegen der starken Zuwanderung sind mittlerweile auch die anderen Parteien auf eine abweisende Rhetorik umgestiegen.

Daher erteilte Bundespräsident Alexander van der Bellen, ein Mann der Grünen, Nehammer den Auftrag zur Bildung einer Dreierkoalition – die in Österreich den Namen „Zuckerl-Koalition“ erhielt. Nun hinterlassen die gescheiterten Verhandlungen jedoch einen bitteren Nachgeschmack: Der große Sieger der Wiener Chaostage ist Herbert Kickl. Am Montag wird Bundespräsident van der Bellen den FPÖ-Chef treffen. In Wien wird erwartet, dass Kickl dann doch mit der Bildung einer Regierung beauftragt wird. Van der Bellen sagte am Sonntag, er habe mit zahlreichen ÖVP-Granden gesprochen und dabei den Eindruck gewonnen, dass „die Stimmen, die eine Zusammenarbeit der ÖVP unter der FPÖ von Herbert Kickl ausschließen, leiser geworden seien. Daher habe ich Herbert Kickl angerufen und mit ihm vereinbart, am Montag um 11 Uhr zusammenzutreffen.“ Noch vor wenigen Monaten hatte Van der Bellen gesagt, er werde Kickl niemals als Kanzler angeloben, weil er zu EU-kritisch und zu Russland-freundlich sei. Von diesen Bedenken war am Sonntag angesichts des Machtvakuums keine Rede mehr. Van der Bellen sagte am Sonntag lediglich, dass der Kanzler den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, freie Medien und die EU-Mitgliedschaft akzeptieren müsse - Punkte, die Kickl formal alle unterschreiben kann.

Stocker ließ am Sonntag durchblicken, dass die ÖVP unter seiner Führung zu Gesprächen mit  der FPÖ bereit sei. Auch einen Bundeskanzler Kickl schloss Stocker - anders als noch im Wahlkampf - nicht mehr aus. Denn in der ÖVP war in den vergangenen Wochen die Erkenntnis gereift, dass man nicht auf Dauer kategorisch die Zusammenarbeit mit einer Partei ausschließen kann, die den Konservativen programmatisch näher steht als die Parteien aus dem linken Spektrum.

ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker wird Nehammer als ÖVP-Chef interimistisch folgen, wie der Parteivorstand am Sonntag beschloss.  Ende Januar gibt es in Niederösterreich Kommunalwahlen, wo der ÖVP weitere schwere Verluste drohen. Stocker hatte am Vorabend im ORF gesagt, wenn ein  Parteichef eine Koalition mit der FPÖ eingehen will, werde ihm die Partei folgen. Der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz hat am Samstag mitgeteilt, dass er für eine Übergangslösung nicht zur Verfügung stehe. Mittelfristig hatte Kurz neulich bei Maischberger eine Rückkehr in die Politik nicht ausgeschlossen.

Der Altkanzler agiert derzeit im Kosmos des Wirtschaftsflügels des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Er hatte, solange dies noch möglich war, auch freundschaftliche Beziehungen zu Russlands Präsident Wladimir Putin gepflegt – wie die FPÖ, die einen russlandfreundlichen Kurs fährt und die EU-Sanktionen entschieden ablehnt. Kurz hatte seinen politischen Aufstieg im Wesentlichen der Strategie zu verdanken, den ablehnenden Migrationskurs der FPÖ zu kopieren und mit freundlichen Worten zu verkaufen.

Der innenpolitische Super-GAU in Österreich ist auch für Deutschland ein interessantes Lehrbeispiel: Die kollektive Ausgrenzung der FPÖ durch die anderen, sich als „demokratisch“ bezeichnenden Parteien hat dazu geführt, dass immer mehr Österreicher der FPÖ ihre Stimme gaben. Die Kickl-Partei hatte die jüngste Nationalratswahl klar gewonnen und liegt in Umfragen derzeit bei 35 Prozent. Wegen der schweren Rezession, in der sich Österreich nicht zuletzt aufgrund der hohen Energiepreise befindet, funktionieren ideologisch einander widersprechende Koalitionen nicht. Laut Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger belasten Österreich in etwa dieselben strukturellen Probleme, wie sie auch in Deutschland und anderen westlichen Demokratien existieren: Die Schuldenlast ist drückend – in Deutschland ist daher der Streit um die Schuldenbremse entbrannt. Die öffentlichen Haushalte müssen saniert, Sozialleistungen gekürzt, die Steuern erhöht werden. Die Renten sind wegen der Überalterung nicht mehr nachhaltig finanzierbar, ebenso das Gesundheitssystem. Die hohen Kosten treiben die Unternehmen aus dem Land. Die Inflation macht das Leben teuer, viele Leute wissen am Monatsende nicht mehr, ob sie es finanziell noch schaffen. Für viele Demokratien, zumal wenn sie eine exportorientierte Wirtschaft betreiben, haben sich die Probleme im Rahmen der gegenwärtigen geopolitischen Verwerfungen verschärft.

Daher kommt nach der Wahl in einer Krise in der Regel die Stunde der Wahrheit, wie man im Übrigen auch in Frankreich beobachten kann. In Österreich haben ÖVP, SPÖ und Neos fast drei Monate verhandelt. Allerdings weiß niemand, worüber genau. Der Politikwissenschaftler Thomas Hofer sprach im ORF von einem für alle spürbaren „Kontrollverlust“. Nach dem Scheitern der Gespräche halten erstmals auch die ärgsten Feinde in der ÖVP einen Bundeskanzler Kickl für denkbar. In fünf Bundesländern ist die FPÖ an der jeweiligen Regierung beteiligt. Unter Wolfgang Schüssel und Kurz war die FPÖ bereits an ÖVP-Bundesregierungen beteiligt, der legendäre sozialdemokratische Kanzler Bruno Kreisky regierte einmal sogar mithilfe der FPÖ, als an deren Spitze mit Friedrich Peter noch ein ehemals hochrangiger SS-Mann stand. SPÖ-Chef Andreas Babler sagte dagegen am Abend in einem Statement, nun drohe Österreich ein „rechtsextremer Kanzler“.

Für die ÖVP könnte Stocker eine Übergangslösung sein, um bei den nächsten Wahlen oder allfälligen Neuwahlen wieder Sebastian Kurz gegen die FPÖ ins Rennen zu schicken – mit einem klaren Profilwechsel nach rechts. Friedrich Merz könnte in den kommenden Wochen eine Studienreise nach Wien unternehmen, nicht wegen der allseits geschätzten Gastronomie. Er würde dort sehen, welches Momentum die Ausgrenzung eines Wahlsiegers in einer Demokratie entwickeln kann.