Kommentar

Wann kommt die historische Aufarbeitung des Konflikts in Nordirland?

Joe Biden feierte jüngst das Ende von „The Troubles“ – in Großbritannien aber wird über diese Geschichte geschwiegen. Unsere britisch-irische Autorin meint: Das muss sich ändern.

Großbritannien muss sich konkreter mit der Geschichte des Nordirlandkonflikts, „The Troubles“, auseinandersetzen, um eine Vermehrung solcher Szenen wie im nordirischen Derry zu vermeiden.
Großbritannien muss sich konkreter mit der Geschichte des Nordirlandkonflikts, „The Troubles“, auseinandersetzen, um eine Vermehrung solcher Szenen wie im nordirischen Derry zu vermeiden.PA Wire

Wer Joe Bidens frühere, durchaus pikante Äußerungen zu Fragen der britisch-irischen Geschichte kennt, dürfte von seinem Ton diese Woche in Irland überrascht sein. Mit Besuchen von gälischen Sportveranstaltungen und seltenen Verweisen auf seine englische Herkunft gelang es ihm, beiderseits der politischen Grenze auf der Insel zu punkten – sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern des Status Nordirlands als Teil Großbritanniens.

Der amerikanische Präsident hätte auch genauso gut Whitney Houston aus „Greatest love of all“ zitieren können („I believe the children are our future“), als er in seiner Rede an der Ulster University in Belfast betonte: Die junge Generation, die sogenannten Peace-Babys, die in den letzten 25 Jahren großgeworden sind, seien die Zukunft; lasst sie den Weg zeigen. Wiederholt stellte er diese Generation als Sinnbild für die Errungenschaften, das Potenzial und die Bedeutung des Karfreitagsabkommens aus.

Doch dieser Schwerpunkt berührt einen Aspekt, den Großbritannien und Irland in den nächsten Jahren viel mehr in den Fokus rücken sollten – eine aufrichtige, historische Bildung und Aufarbeitung von „The Troubles“, des 30 Jahre andauernden Nordirlandkonflikts. Dabei kamen 3600 Menschen bei mehr als 10.000 Bombenanschlägen in Großbritannien und Irland ums Leben.

Was im Ausland als Bürgerkrieg gilt, wird in Großbritannien kaum besprochen

In den 14 Jahren, die ich in Großbritannien zur Schule ging, wurden „The Troubles“ sowie die 800 Jahre des britischen Kolonialismus in Irland, die dazu führten, allerdings nie im Geschichts- oder Staatsbürgerkundeunterricht thematisiert. So war das nicht nur in meiner Schule; als die äußerst populäre Comedy-Serie „Derry Girls“ über das Leben von fünf Teenagern im Nordirland der 1990er-Jahre vor einem Jahr zu Ende ging, schrieben unzählige britische Feuilletonisten, sie hätten durch diese Serie mehr über den Konflikt gelernt als jemals in der Schule. Alles, was ich über das Thema weiß, stammt aus meiner eigenen Motivation, mich als irischstämmige Britin, die ich bin, darüber zu informieren.

Musste das so sein? Will Großbritannien den längsten internen Konflikt seiner jüngsten Geschichte, der nicht nur in Deutschland oft als Bürgerkrieg bezeichnet wird, beschönigen? Das Land benötigt eine echte Diskussion über den britischen Kolonialismus und die Vertuschungen und Bürgerrechtsverletzungen bis 1998 – ist aber offenbar noch nicht dafür bereit. Nun hat der Brexit gezeigt, wie wenig Verständnis und Rücksicht die Wähler in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs auf Nordirland nehmen; es folgte ein Wiederaufflammen von Spannungen und Gewalt in Nordirland. Nur eine offene und ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte der britischen Insel kann verhindern, dass sich dieser Trend fortsetzt.

Irland: Jeder vierte Jugendliche glaubt an ungenaue Informationen über den Konflikt

Auch in Irland gibt es Handlungsbedarf. In einer Studie der britischen Times zu 25 Jahren Karfreitagsabkommen hieß es, jeder vierte Ire unter 35 Jahren sei „uninformiert“ über die Geschichte der „Troubles“. Viele schrieben die meisten Todesopfer des Konflikts der britischen Armee zu und nicht den wahren Schuldigen: den Terrormilizen auf beiden Seiten, also der irisch-republikanischen I.R.A. und den protestantisch-unionistischen Ulster Volunteers. Und nur sieben Prozent der Befragten gaben an, ihre Informationen zum Konflikt in der Schule erhalten zu haben. Als Reaktion kritisierten die irischen Regierungschefs Leo Varadkar und Micheál Martin Versuche, „die Geschichte für die eigenen Ziele umzuschreiben“.

Nach dem Brexit und dem jüngsten Wahlerfolg der republikanischen Sinn Fein in Nordirland glauben viele, die irische Einheit könne innerhalb einer Generation erreicht werden. Andere warnen, dass Irland angesichts der immer noch sehr fragilen Friedensfrage noch mehr Zeit brauche, damit es nordirische Perspektiven besser einbeziehen könne. Eine Einigung nach deutschem Vorbild, bei der sich viele in der beitretenden Partei noch nach 30 Jahren so fühlen, als sei ihre Identität dabei ausgeblendet und ignoriert worden, könnte auf der irischen Insel fatale Folgen haben.

Joe Bidens heiterer Besuch mag den Eindruck erweckt haben, das Erwachsenwerden der „Peace-Babys“ habe ein glückliches Ende der tragischen Geschichte der „Troubles“ markiert. In Wirklichkeit ist dies eine Geschichte, in der noch vieles niedergeschrieben werden muss.