Dmytro Nazarets ist Erleichterung anzuhören. Licht und Heizung funktionieren wieder in seiner Wohnung im Kiewer Innenstadtbezirk Solomjanskyj, erzählt der 49 Jahre alte Rechtsanwalt im Video-Chat. Es ist das Erste, was ihm als Antwort auf die Frage einfällt, wie es ihm gehe. Die vielen kleinen Wunder, die geschehen, wenn Tasten gedrückt und Schalter betätigt werden, sind nach Tagen in der Dunkelheit und Kälte in den meisten Bezirken der ukrainischen Hauptstadt endlich wieder da. Auch die Heizung verbreitet Wärme in Nazarets’ ausgekühlter Wohnung.
Die Stadtverwaltung in Kiew erklärt, dass 80 Prozent der Stadt inzwischen wieder über Strom, Heizung und fließendes Wasser verfügten. In der vergangenen Woche war Kiew aus der Zivilisation gefallen. Die lebenswichtigen Versorgungsnetze waren nach dem achten russischen Schwarmangriff mit Raketen und iranischen Kamikazedrohen am 23. November kollabiert – ein Zustand, der tagelang anhielt.
Ohne Strom versagten auch die Wasserpumpen. Klospülungen funktionierten nicht mehr. Kein Tropfen floss aus den Leitungen. Auch die Heizkörper blieben kalt. Internet und Mobilfunk funktionierten nur sporadisch.
Die Russen beschossen wie bei vorherigen Angriffswellen seit dem 10. Oktober Kraftwerke, Stromleitungen und Umspannwerke. Die Geschosse trafen manche Einrichtungen bereits zum zweiten oder dritten Mal. Trupps von Ingenieuren arbeiteten Tag und Nacht an der Reparatur beschädigter Energieinfrastruktur. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass ihr Tagwerk von Attacken aus der Luft erneut zunichtegemacht wird. Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt bereits vor neuen Angriffen.
Der Strom wird auch künftig abgeschaltet
Die ukrainischen Stromversorger bemühen sich seit Beginn der russischen Angriffe auf die Energieversorgung des Landes darum, das zunehmend instabile Netz mit rollenden Abschaltungen zu stabilisieren. Mal hat dabei ein Bezirk in einer Stadt über Stunden keinen Strom, während im Nachbarbezirk die Lichter leuchten, dann wird gewechselt. Die geplanten Abschaltungen bleiben auch nach den für erfolgreich erklärten Reparaturen am Netz notwendig, erklären die Energieunternehmen.
Probleme bereiten zunehmend die Wasser- und die Wärmeversorgung. Mit sinkenden Temperaturen steigt die Gefahr, dass zuletzt über Tage unversorgte Rohre platzen könnten. Dann säßen Millionen Menschen in den kältesten Wochen des Jahres in ungeheizten Wohnungen.
Der Rechtsanwalt aus Kiew erlebt, wie die Versorgungskrise seine Nachbarschaft jeden Tag mehr verändert. Sobald er seine Wohnung verlässt, hört er schon das laute Brummen von Generatoren. Sein ruhiges Viertel verwandele sich zudem jeden Tag mehr in einen Trödelmarkt. Händler verkauften an Straßenecken Kerzen, Taschenlampen und Gaskartuschen für Campingkocher.
Sonst hätte ich tagelang nur kalt essen können.
Er habe selbst während des Blackouts nach den Angriffen vom 23. November Mahlzeiten mit einem Gaskocher auf dem Balkon zubereitet. „Sonst hätte ich tagelang nur kalt essen können“, erzählt er. Mit Gas in der Wohnung zu hantieren, sei ihm zu riskant gewesen. „Wenn die Menschen jetzt anfangen, in ihren Wohnungen Campingkocher zu benutzen, ist das wahnsinnig gefährlich.“

Nazarets wiederholt immer wieder einen Satz: „Was können wir schon machen?“ Er fasst ein Gefühl zusammen, das wohl vielen Kiewern angesichts absurder Umstände durch den Kopf gehen mag: Augen zu und durch. Immerhin sei noch das Wetter ein Verbündeter der Ukraine. „Bisher gab es noch keinen richtigen Frost“, berichtet der Anwalt.
Duschen und Wäschewaschen sind keine Selbstverständlichkeit
Er habe bisher das Zwiebelprinzip beim Ankleiden nicht ausreizen müssen, meint er. „Es war schlimmer, dass niemand wusste, wann es Wasser gibt, um sich zu duschen oder Wäsche zu waschen“, meint er. Doch der Winter in der Ukraine ist lang und er hat gerade erst begonnen.
Nazarets lebt seit einiger Zeit nicht mehr alleine in seiner Wohnung. Seine zwölfjährige Tochter ist nach mehreren Monaten im Ausland zurückgekehrt. Der Vater blieb nach dem russischen Angriff in Kiew. Seine Frau floh mit der Tochter in die Schweiz. Das Mädchen habe unter der Trennung sehr gelitten, erzählt der Vater.
Seine Frau und er hätten lange abgewogen, was das Beste für ihr Kind sei. Sie erlaubten schließlich der Tochter die Rückkehr nach Kiew. „Meine Frau blieb allein in der Schweiz. Der Aufenthaltstitel für sie und unsere Tochter soll nicht verloren gehen.“
Sollte die Heizung in den kommenden Wochen erneut für längere Zeit ausfallen, will Nazarets seine Tochter zu seiner Frau zurückschicken. Er überlege sich bereits, wie er sie überzeugen könnte. „Im Moment ist ihr größtes Problem, dass sie sich morgens vor der Schule nicht die Haare föhnen kann.“ Und ergänzt: Er habe Freunde, die über einen Holzofen verfügten. Sie seien bereit, ihn aufzunehmen, sollte die Wärmeversorgung in der Stadt völlig zusammenbrechen, meint er.
Die Zusicherungen von Bürgermeister Vitali Klitschko, für die Bevölkerung von Kiew im Winter 1000 Wärmeinseln bereitzustellen, scheinen den Anwalt wenig zu beruhigen. Er sei an einigen bereits in Betrieb genommenen Aufwärmstationen, „Punkte der Unzerstörbarkeit“ genannt, auf seinem Weg durch die Stadt vorbeigekommen. „Das sind einfache Zelte“, sagt er.
Die Behörden planten, auch Schulen als Evakuierungszentren für Menschen ohne Heizung zu nutzen. Nazarets bezweifelt aber, dass die Stadtverwaltung über genügend Generatoren und Treibstoff für Notstromgeräte verfüge. „Was nützen Wärmeinseln, wenn sie nicht geheizt werden können?“, fragt der Anwalt.
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Bürgermeister von Kiew gerade öffentlich gerügt, die Stadt bemühe sich zu wenig um den Schutz ihrer Bürger. Klitschko wies die Kritik auf seinem Kanal des Kurznachrichtendienstes Telegram zurück. Er habe andere Dinge in seiner Stadt zu erledigen, als sich in sinnlose politische Streitereien zu verwickeln, bemerkte der Bürgermeister. Er verwies außerdem darauf, dass seine Behörden bereits 430 Wärmestationen in Kiew eingerichtet hätten. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur RBK-Ukraine sagte Klitschko: „Wenn der Krieg vorbei ist, dann kann man Innenpolitik spielen.“
Dabei haben die Stadtverwaltungen einfach kein Geld.
Auch Nazarets hält den Schlagabtausch zwischen Selenskyj und Klitschko für ein politisches Spiel. „Ich glaube, er sieht in Klitschko einen Konkurrenten“, sagt er. Die Regierung versuche, den Ärger der Bürger über die Versorgungskrise außerdem bei den Kommunen abzuladen. „Dabei haben die Stadtverwaltungen einfach kein Geld.“
Den Behörden in der Ukraine fehlt oft das Geld
Der Krieg hat ein riesiges Loch in den ukrainischen Staatshaushalt gerissen. Die Energiekrise trifft die taumelnde Wirtschaft eines Landes, das im Norden, Süden und Osten in Trümmern liegt oder vom Feind besetzt ist. Die Behörden müssen nun im Rekordtempo Treibstoff und Notstromaggregate auftreiben, um Millionen Menschen vor dem Erfrieren zu retten. Jede Investition kostet Kommunen, die „Oblast“ genannten Verwaltungsbezirke und die Zentralregierung Geld, das an anderer Stelle fehlt.








