Die Regale in der Großapotheke am Stadtrand von Lwiw leeren sich in rasendem Tempo. Die Apotheker greifen schnell wie Roboter in einer Fabrik hier nach einer Pillenschachtel, dort nach einem Fläschchen oder einem Tablettenblister. Andere scannen pausenlos die Preise, während immer mehr Menschen den Raum der Apotheke füllen. Draußen vor der Tür bilden die Wartenden eine Schlange. Sie wollen sich eindecken, mit allem, was sie für eine unbestimmte Zeit an Arzneimitteln benötigen.
Der Stuttgarter Serkan Eren wird zu einer hinteren Kasse gelotst. Er will für 2000 Euro Medikamente kaufen. Der Helfer von der zivilen Hilfsorganisation Stelp ist am Wochenende in der Stadt angekommen. Das Geld in seinem Rucksack ist Spendengeld. Die Medikamente sollen an jene Ukrainer verteilt werden, die in einem anschwellenden Strom in überfüllten Zügen aus Kiew und anderen bombardierten Städten in der westukrainischen Großstadt in 70 Kilometer Entfernung zur polnischen Grenze ankommen.
Lwiw liegt maximal von russischen Raketen entfernt
Lwiw gilt in maximaler Entfernung zu den russischen Raketenbasen und Flughäfen in Russland und Belarus als vergleichsweise sicher. Ein Grenzübergang nach Polen befindet sich außerdem in der Nähe der Stadt. Nur die Straßen dorthin sind seit Tagen durch eine endlose Blechlawine von Flüchtenden verstopft. „Aus Kiew kommen jetzt so viele Menschen mit den Zügen hierher. Darunter sind Kinder, und viele sind verletzt. Wir brauchen die Medikamente für sie“, meint Eren. Der Helfer hält den Rucksack mit Bündeln an Bargeld in Euro und der ukrainischen Währung Hrywnja in den Händen.
Die Apothekerin packt nur eine Handvoll Schachteln und Fläschchen in zwei kleine Pappkartons. Mehr könne sie beim besten Willen nicht herausgeben, sagt sie. Die Lagerkammer sei leer. Eren verliert für eine Sekunde die Fassung. Er hat mehr als genügend Bares in seinem Rucksack. Aber die leeren Vorräte der Apotheke lassen sich im Moment mit keinem Geld der Welt auffüllen.
Auch seine ukrainische Kontaktfrau Jelena Komissarowa ist den Tränen nahe. Die Lwiwer Freiwillige hat den Deal mit der Apotheke eingefädelt. Davon hat sich Eren einen beträchtlichen Vorrat an Medikamenten für die Geflüchteten aus dem umkämpften Kiew und anderen Landesteilen versprochen. Sie spricht auf Eren ein, erklärt ihm, dass die Apotheken in Lwiw immer weniger über die von Geflüchteten verstopften oder von den Russen zerschossenen Straßen der Ukraine geliefert bekämen. Eren beschwichtigt sie. „Ich weiß, das ist nicht deine Schuld. Mir rennt nur die Zeit davon“, sagt er.
Die Zeit ist ein limitierender Faktor für den deutschen Helfer, und er ist nur einer von vielen im Krieg in der Ukraine. Eren brach am zweiten Tag nach dem Beginn der russischen Invasion mit zwei Lastwagen voller Hilfsgüter in Stuttgart auf. Jeder Wagen hatte 2,5 Tonnen an Lebensmitteln, Decken, Medikamenten und Hygieneartikeln geladen. Der Konvoi erreichte in der Nacht den Lwiw am nächsten gelegenen Grenzübergang vom polnischen Korczowa ins ukrainische Krakowez.
Dann der erste Schock für Eren: Die polnischen Grenzbeamten verweigerten den Lastwagen die Überfahrt. Es fehlten angeblich Papiere für die Formalitäten. „Ich habe sie angebettelt, war den Tränen nahe. Da war nichts zu machen“, sagt Eren. Er entschied sich, mit der Reporterin Sophia Maier von Stern TV, einem Kameramann und einem Rucksack mit 25.000 Euro die Reise in den Krieg ohne die Lastwagen fortzusetzen. Die Fahrzeuge kehrten um und steuerten Aufnahmezentren für Ukrainer in Polen an. Immerhin kommen die Güter so den Menschen zugute, die bei ihrer Flucht vor den russischen Bomben und Raketen das Ziel Polen erreicht haben. „Wären wir mit den Lastwagen durchgekommen, läge unser Impakt bei zehn, so liegt er bei sieben“, meint Eren.
Eren und die Journalisten bleiben über Stunden im Stau zwischen der Grenze und Lwiw stecken. Männer, die ihre Familien zur Grenze gebracht haben und nun per Gesetz verpflichtet sind, in den Krieg zurückzukehren, verstopfen die Straße. Erens Gruppe erreicht Lwiw in den Morgenstunden. Die Rezeptionisten in jedem Hotel schütteln nur den Kopf auf die Frage, ob es ein freies Zimmer gebe. Lwiw platzt aus allen Nähten, seitdem die Ukrainer aus anderen Landesteilen hierher flüchten. Ein Hotelier erbarmt sich schließlich. Er lässt die Deutschen auf dem Boden eines Konferenzraums übernachten. Am folgenden Tag finden Eren und seine Begleiter in Lwiw über ihre ukrainischen Kontakte ein freies Apartment.
Eren sitzt jetzt am Steuer seines Audis und steckt nach dem für ihn enttäuschenden Einkauf in der Apotheke auf dem Weg ins Stadtzentrum schon wieder im Stau. Es scheint, als wäre die ganze Ukraine auf den Straßen, ziellos, Hauptsache von einem Ort zum anderen. Der Stuttgarter Helfer ist unterwegs zum Bahnhof von Lwiw. Dort erwartet ihn das nächste Drama.
In Lwiw drängen sich die Menschen im Bahnhof
Tausende strömen von allen Seiten auf den im 19. Jahrhundert im neugotischen Stil errichteten Prachtbau. Der Eingang saugt die Menschen ein und spuckt sie im Gedränge in der Wartehalle aus. In den Gängen zu den Gleisen stehen die Flüchtenden noch dichter beieinander. Es bilden sich Trauben vor den Treppen. Manche schreien sich ihre Verzweiflung aus dem Leib. Menschen klettern oben von den Bahnsteigen über die Gleise. Eren greift einer alten Dame unter den Arm und hilft ihr hinüber. Er denkt angestrengt nach, wie er den Menschen am Bahnhof helfen kann. Sie erhalten in Zelten vor dem Gebäude schon Essen und Wasser. Er entscheidet sich, zunächst mit seinen ukrainischen Kontaktleuten zu sondieren, ob er hier noch unterstützen kann.
Eren sitzt etwas später am Nachmittag einige Kilometer vom Lwiwer Bahnhof entfernt mit zwei baptistischen Pastoren im Konferenzraum der Gemeinde. Einer der Pastoren, Dmytri Kolesnyk, ist auch Stadtrat in Lwiw. Er schildert dem Stuttgarter Helfer, wie sich die Versorgungslage der Stadt Stunde um Stunde, Tag um Tag weiter zuspitzt. „Die Ukraine kann sich wunderbar selbst versorgen. Aber jetzt sind alle Lieferketten im Land unterbrochen. Straßen sind zerstört oder die Transportlaster kommen im Stau nicht vom Fleck“, sagt der Pastor. Er schätzt, dass es in spätestens zehn Tagen Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung geben könnte.
Eren will mit seinem Geld Essen kaufen oder Matratzen für die Geflüchteten, die im Gemeindezentrum ein Obdach finden. Aber wie in der Apotheke bekommt er zur Antwort, dass die Vorräte der Supermärkte immer kleiner werden. „Wir können eine Bestellung aufgeben und dann hoffen, dass sie die Sachen auch liefern können“, erklärt Kolesnyk. Sein Pastorenkollege Yaroslaw Nazarkeywitsch fügt hinzu, dass die jetzt wichtigsten Güter schon lange gehamstert seien: Mehl, Zucker, Pflanzenöl, alles, was lange haltbar ist.
Als das Gespräch mit den Pastoren endet, ist es bereits dunkel geworden. Jeden Abend um 18 Uhr proben die Sirenen in Lwiw. Von 22 Uhr an gilt eine Ausgangssperre. Eren hat mit der Gemeinde verabredet, am nächsten Tag noch einen Versuch zu machen, Lebensmittel einzukaufen.
Eren verbringt die letzten Stunden vor der Ausgangssperre in einem zum Helferstützpunkt umgewandelten Restaurant in der Altstadt von Lwiw. Ukrainische Freiwillige belegen in der Küche der Vinothek „Prag“ Sandwiches mit Käse und Wurst, die Eren gekauft hat. Der Helfer zieht Bilanz seiner ersten Tage in der Ukraine. „Das Problem sind die unterbrochenen Lieferketten im Land. Das macht es schwierig, vor Ort Hilfsgüter zu organisieren. Es ist einfach nicht genug da“, sagt er. Er erinnert die Europäer und die internationale Gemeinschaft an ihre Verantwortung für die ukrainische Zivilbevölkerung. „Das waren jetzt die ersten chaotischen Tage in diesem Krieg. Wir brauchen dringend und sobald wie möglich einen humanitären Korridor von Polen in die Ukraine für die Helfer, damit die Lastwagen mit den Hilfsgütern einfach über die Grenze rollen können“, sagt er.



