Kolumne

Nichtbinär: Wenn kein Geschlecht richtig passt

Als Mädchen hatte sich Gio Lucia nie gefühlt, als trans Junge aber auch nicht: Das erfolgreiche Model über den Kampf nonbinärer Menschen mit der Bürokratie.

Gio Lucia identifiziert sich als nichtbinär und genderfluid.
Gio Lucia identifiziert sich als nichtbinär und genderfluid.Konstantin Odin/zVg

Als ich ihn ansprach, wusste ich überhaupt nicht, wie bekannt Gio ist. Auf dem Trans Day of Visibility hatte Gio gerade vor dem Reichstagsgebäude eine eindrückliche Rede zur Situation nichtbinärer Menschen gehalten. Als wir uns an einem verregneten Apriltag in einem Café in Berlin-Mitte treffen, habe ich die Tiktok-Videos gesehen, in denen das Model teils mehrere Millionen Menschen erreicht.

Die Frage, die ich Gio zu Beginn des Gesprächs stelle, ist für viele ungewohnt, für Jüngere jedoch gängig: Mit welchen Pronomen möchtest du angesprochen werden? Für Gio ist das Pronomen ‚er‘ in Ordnung, besser wäre das Neopronomen ‚dey‘, das im Genitiv ‚deren‘ lautet, im Dativ ‚denen‘. Übungshalber verwende ich dieses Neopronomen im folgenden Satz: Gio räumt ein, dass denen (ihm) selbst am Anfang Fehler bei der korrekten Verwendung dieses Neopronomens unterlaufen seien – und deshalb zeigt dey (er) durchaus Verständnis für alle, die sich damit erst vertraut machen müssen.

Nachdem diese Frage geklärt ist, entwickelt sich ein zugewandtes, freundliches Gespräch bei Hafermilch-Kakao und Cappuccino. Dass Gio sich nicht als das Mädchen fühlte, das andere in ihm sahen, zeigte sich, „sobald mir Geschlecht ein Begriff wurde“, zwölf oder 13 war Gio damals. Sechs Jahre lang verstand sich Gio als trans Junge, fühlte sich aber nicht stimmig in schlabbrigen Jungsklamotten, kleidete sich dann doch wieder feminin. Die Fingernägel blieben unlackiert, um als Junge wahrgenommen zu werden. Sicher, wo sein Geschlecht zu verorten ist, „war ich mir jedoch nie zu 100 Prozent“. Mit 21 Jahren sah Gio auf der Videoplattform Tiktok Leute, die sich als nichtbinär bezeichneten, las sich in das Thema ‚genderfluid‘ ein. Erstmals fand Gio damit Begriffe, die seine geschlechtliche Identität beschreiben. Es fühlte sich gut an, „andere Leute zu sehen, die sich genauso fühlen wie ich“, sich gerne schminken und ihren geschlechtlichen Raum nicht auf männliche Klischees verengen lassen wollen.

Krankenkassenbürokratie: „Für die existiere ich praktisch nicht.“

Das ohnehin reformbedürftige Transssexuellengesetz (TSG) ignoriert nichtbinäre trans Personen wie Gio, auch die Sozialgesetzgebung für trans Personen fokussiert sich auf Frauen und Männer. Für nichtbinäre trans Personen hat das erhebliche Folgen: Psychotherapeutische Unterstützung zu suchen, habe er trotz depressiver Phasen aufgegeben, die Kostenübernahme der 6000 Euro teuren Mastektomie habe die Krankenkasse abgelehnt. An keinen Moment könne er sich erinnern, in dem er mit weiblichen Brüsten glücklich gewesen sei, so Gio. Auch den Zugang zu Testosteron, für die körperliche Transformation wichtig, erschwere die Krankenkassenbürokratie. „Für die existiere ich praktisch nicht.“

Den Weg, trotz dieser Widernisse voranzukommen, macht Gio auf Tiktok öffentlich. Das gefragte Model bekam 2021 den ersten Vertrag, wird von seiner neuen Agentur auf dem „Männerboard“ verbucht. Wenn weitere nichtbinäre Models zu vermitteln sind, würde die Agentur auch ein „Nichtbinär-Board“ eröffnen. Während der Mode- und Modelindustrie der Ruf vorauseilt, eher rückschrittliche Körperideale zu unterstützen, erfährt Gio bei der Arbeit viel Unterstützung: Bei der Arbeit wird er mit den richtigen Pronomen angeredet, in seiner Identität selbstverständlich akzeptiert, und die TV-Spots mit dem nonbinären Model laufen zur besten Sendezeit – Werbung, die dem eigentlichen Fernsehprogramm gesellschaftlich vorauseilt.