Lia Thomas ahnte, was auf sie zukommt, und war doch überrascht. „Wir haben damit gerechnet, dass es ein gewisses Maß an Widerstand von einigen Leuten geben würde. Mit diesem Ausmaß haben wir aber nicht gerechnet“, sagte Thomas. Ex-Präsident Donald Trump hat bereits über sie gesprochen (transphob), Schwimmlegende Michael Phelps äußerte sich ebenfalls (verunsichert). Fox News hat gemerkt, wie viel Empörung man mit Thomas generieren kann und berichtet regelmäßig über sie. Auf Twitter wird ihr vorgeworfen, den Frauensport zu zerstören. Um den Trubel nachvollziehen zu können, muss man zwei Dinge über Thomas wissen: Sie kann sehr schnell schwimmen. Und sie ist trans*.
Thomas kam in Austin, Texas zur Welt. Bei der Geburt wurde ihr das männliche Geschlecht zugewiesen. Im Alter von fünf Jahren begann sie mit dem Schwimmen und schaffte es 2017 in das College-Team der prestigeträchtigen University of Pennsylvania. Obwohl es sportlich gut für Thomas lief, war die Zeit für sie mental belastend. „Ich war sehr angespannt und fühlte mich im Prinzip in meinem Körper gefangen. Es passte nicht zusammen“, sagte die 22-Jährige im SwimSwam-Podcast. Um ihr Geschlecht anzugleichen, begann Thomas vor drei Jahren, Testosteron-Blocker und Östrogene zu nehmen. Seit dieser Saison startet sie nicht mehr für das Männer-, sondern für das Frauenteam der Universität. Aktuell gehört sie zu den besten College-Schwimmerinnen in den USA.
Trans* Athletinnen werden immer sichtbarer. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio nahm mit Gewichtheberin Laurel Hubbard erstmals eine offen trans* Athletin teil. Je erfolgreicher trans* Sportlerinnen sind, desto ausgiebiger die anschließende Debatte. Es geht dabei um Fairness, Inklusion und die Frage, ob man das eine gewährleisten kann, ohne das andere einzuschränken. Sportverbände werden sich damit in Zukunft immer intensiver auseinandersetzen müssen. Eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind, scheint in der binären Welt des Sports fast unmöglich.
Im Kern geht es darum: Haben trans* Athletinnen einen unfairen Vorteil, weil sie die männliche Pubertät durchlaufen haben? Lia Thomas wird das vorgeworfen, sogar von manchen ihrer Teamkolleginnen. Grundsätzlich senkt eine Hormontherapie den Testosteronspiegel von trans* Frauen, dabei werden Kraft und Muskelmasse weniger. Einige Eigenschaften wie Lungenvolumen oder Körpergröße bleiben allerdings unverändert.
„Wie groß der verbleibende Vorteil von Trans-Frauen gegenüber Cis-Frauen ist, lässt sich schwer abschätzen“, sagt Joanna Harper, die seit Jahren zu dem Thema forscht. „Vorteile im Ausdauersport verschwinden wahrscheinlich, Vorteile im Kraftsport wahrscheinlich nicht“, vermutet sie. Die Datenlage lässt derzeit keine definitiven Schlüsse zu. Bisherige Studien wurden meist an trans* Frauen durchgeführt, nicht an Sportlerinnen. Die Ergebnisse sind daher nur bedingt übertragbar. „Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis wir robuste Daten haben“, sagt Harper. Dass solche Daten fehlen, macht die emotionale Debatte nicht gerade einfacher.
Müssen sich Sportverbände also zwischen Inklusion und Fairness entscheiden? „Man kann nicht die Inklusion von Trans-Frauen im Frauensport ermöglichen und gleichzeitig Fairness gegenüber biologischen Frauen garantieren“, sagte Sportwissenschaftler Ross Tucker in seinem Podcast. „Diese beiden Ziele schließen sich gegenseitig aus.“ Harper sieht das nuancierter. Es müsse unterschiedliche Herangehensweisen geben. „Wenn es sich um Freizeit- oder Breitensport handelt, sollten wir die Menschen einfach spielen lassen“, sagt sie. „Auf internationaler Ebene ist es vernünftig, restriktiver vorzugehen.“
Zurzeit gehen Sportverbände unterschiedlich mit dem Thema um. World Rugby schloss 2020 als erster internationaler Verband trans* Frauen aus, mit der umstrittenen Begründung, dass diese eine Gefahr für andere Spielerinnen darstellen würden. Die meisten Sportorganisationen setzen auf einen Mittelweg: Inklusion, aber nur, wenn gewisse Vorgaben erfüllt sind. Der Welt-Volleyballverband erlaubt zum Beispiel nur eine trans* Person pro Team. World Athletics, für Leichtathletik zuständig, setzt auf eine Testosterongrenze. Laut Regelwerk muss der Testosteronspiegel einer trans* Athletin zwölf Monate lang unter fünf Nanomol pro Liter Blut liegen, bevor sie startberechtigt ist.

Ende des vergangenen Jahres hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) überraschend Abstand von pauschalen Testosterongrenzen genommen. Mit den neuen Richtlinien zu trans- und intergeschlechtlichen Sportlerinnen legt das IOC den Fokus auf Inklusion und bekam dafür seltenes Lob von Menschenrechtsorganisationen. Der Weltverband für Sportmedizin beklagte dagegen das Fehlen von „biologischen oder medizinischen Aspekten“ in den IOC-Vorgaben.
In Deutschland war der Berliner Fußball-Verband (BFV) eine der ersten Sportorganisationen, die inklusive Regularien aufstellten. Menschen mit dem Personenstandseintrag „divers“ dürfen sich aussuchen, ob sie bei den Männern oder Frauen mitspielen. Zudem sind trans* Personen schon während der Transition bei dem Geschlecht spielberechtigt, an das ihr Körper angeglichen wird. Vor zwei Jahren sind die Regeln in Kraft getreten, seitdem sind andere nachgezogen. Der Deutsche Hockey-Verband hat sich nach Austausch mit dem BFV für ähnliche, nationale Richtlinien entschieden.
Verbände sollen sich rechtzeitig informieren und Ansprechpersonen benennen
Wie viele Menschen von den BFV-Regelungen Gebrauch machen, ist nicht bekannt, es seien aber „nicht überwältigend viele“, sagt Michaela Jessica Tschitschke, Ansprechperson für Vielfalt beim BFV. Das Feedback der Fußballvereine ist unterschiedlich. „Es gibt eine Handvoll Vereine, die in dem Thema schon sehr drinstecken und eine breite Mitte, die sich damit noch nicht befasst haben“, sagt sie. Beschwerden habe es jedoch noch keine gegeben.
Tschitschke rät jedem Verband dazu, sich rechtzeitig zu informieren und Ansprechpersonen zu benennen. „Es ist immer schwieriger, wenn plötzlich betroffene Personen da sind und vorher nichts getan wurde“, sagt sie. Dass grundsätzlich über trans* Personen im Sport gesprochen werde, sei wichtig. „Ich hoffe aber nicht, dass es irgendwann in eine negative Debatte umschlägt.“
Im Fall von Lia Thomas ist das bereits geschehen. Was vor lauter Aufregung manchmal vergessen wird: Seitdem Thomas gegen Frauen schwimmt, ist sie zwar erfolgreicher als gegen Männer, doch auch vor ihrer Geschlechtsangleichung war sie außergewöhnlich schnell. „Die Unterschiede sind nicht so dramatisch, wie es manche darstellen“, sagt Forscherin Harper. Es gibt jedoch auch Wissenschaftler, die durch Thomas bestätigt sehen, dass die Teilnahme von trans* Athletinnen im Frauensport unfair ist. Laut einer noch nicht von Experten geprüften Studie ist Thomas rund fünf Prozent langsamer als vor drei Jahren. Der Unterschied zwischen den Zeiten der besten Schwimmer und der besten Schwimmerinnen beträgt dagegen 7 bis 15 Prozent.
Die Einführung einer „dritten Kategorie“ erscheint unrealistisch
In der Diskussion geht es in erster Linie um biologische Aspekte, die soziologische Dimension wird vernachlässigt. Wer trans* Athletinnen ausschließt, erschwert einem marginalisierten Teil der Gesellschaft das Leben zusätzlich. Selbst ein Ausschluss nur vom Leistungssport würde wohl die Akzeptanz von trans* Frauen und Mädchen im Breitensport verringern. Ohnehin gibt es im Sport schon viel Transnegativität. In einer Befragung gab über die Hälfte der trans* Personen an, sich von sportlichen Aktivitäten ausgegrenzt zu fühlen.
Dass für trans* Sportlerinnen eine „dritte Kategorie“ eingeführt wird, erscheint unrealistisch. Zum einen würde trans* Frauen damit das Frausein abgesprochen werden, zum anderen gibt es in den meisten Sportarten nicht genug trans* Athletinnen für einen sinnvollen Wettbewerb.
In den USA ist aus dem Thema längst ein Kulturkampf geworden, den die Republikaner nutzen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Einige US-Bundesstaaten haben begonnen, die Rechte von trans* Mädchen einzuschränken – weit über den Sport hinaus. Die Debatte polarisiert: Während die einen trans* Athletinnen als Gefahr für den Frauensport sehen, wünschen sich die anderen bedingungslose Inklusion. „Es ist ein wirklich ... ehrlich gesagt ... ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte Michael Phelps dem Nachrichtensender CNN, als er nach Lia Thomas gefragt wurde. Schließlich brachte er es doch auf den Punkt: „Es ist sehr kompliziert.“
