Interview

Der deutsche Blick nach Frankreich: „Olaf Scholz braucht Emmanuel Macron“

Gerade noch mal gut gegangen für Europa: So hieß es nach der Frankreich-Wahl. Die Gefahr kommt aber woanders her, sagt der Demokratieforscher Wolfgang Merkel.

Zwei für Europa? Emmanuel Macron und Olaf Scholz im März.
Zwei für Europa? Emmanuel Macron und Olaf Scholz im März.AP/Michel Euler

Die Populistin und Antieuropäerin Marine Le Pen hat es am Sonntag zwar nicht ins französische Präsidentenamt geschafft, aber sie konnte über 40 Prozent der Stimmen gewinnen. Ein Gespräch mit dem Demokratieforscher Wolfgang Merkel über vergleichbare Strategien und Möglichkeiten der AfD, die Auswirkungen für Europa und Bundeskanzler Olaf Scholz.

Herr Merkel, was war Ihr erster Gedanke am Sonntag, als Sie vom Wahlsieg Emmanuel Macrons in Frankreich erfahren haben?

Keine Überraschung. Das habe ich erwartet. Bei einer solchen Konstellation, Le Pen auf der rechten Seite und jemand aus dem bürgerlichen Lager der Mitte, gibt es bei vielen Wechselwählern einen Reflex, nicht ins Risiko zu gehen und eine rechtsradikale oder rechtspopulistische Kandidatin zu wählen.

Einfache Themen, simple Lösungen, wie bei der AfD

Marine Le Pen hat allerdings ein erhebliches Wählerpotenzial erreichen können, und das mit sehr einfachen Themen wie den steigenden Lebenshaltungskosten. Geht die AfD in Deutschland nicht ganz genauso vor?

Programmatisch ist es ähnlich. Unterschiede sind aber zu erkennen, wenn man näher auf das Erscheinungsbild von Le Pen schaut. Die AfD ist weiter nach rechts gerückt in den vergangenen drei, vier Jahren, während sich Le Pen bürgerlicher darstellen kann, weil es neben ihr noch einen extrem rechten Kandidaten gibt. Aber natürlich, was erwarten wir denn von einer rechtspopulistischen Partei? Einfache Themen, simple Lösungen. Das heißt aber auch, dass diese Themen von den etablierten Parteien in beiden Ländern zu wenig berücksichtigt werden.

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WZB/David Ausserhofer
Zur Person
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, geboren 1952 in Hof, ist Direktor em. der Forschungsabteilung Demokratie und Demokratisierung am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin (WZB) und Professor em. der Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Wo sehen Sie Unterschiede?

In Frankreich gibt es eine wesentlich radikalere Protestkultur, die aber primär sozioökonomisch orientiert ist. In Deutschland spielt der sozioökonomische Konflikt im politischen Diskurs der letzten Jahre nur eine sehr geringe Rolle. Während die Gesellschaft in Frankreich klassengeprägt ist, ist sie in Deutschland mittelschichtsorientiert. Eine wichtige Rolle spielt dabei das andere institutionelle System. Frankreich hat ein semipräsidentielles Regierungssystem mit einem absoluten Mehrheitswahlrecht. Das fördert personenbezogenes Wählen und begünstigt die stärkste Partei, anders als das deutsche Verhältniswahlrecht, das alle Parteien über der Fünf-Prozent-Schwelle proportional repräsentiert.

Erklärt das auch den Absturz der französischen Sozialisten?

Ja, es ist schon gespenstisch, die Kandidatin der PS (Partie socialiste) hat im ersten Wahlgang 1,75 Prozent der Stimmen bekommen. Das war vor Macron die Regierungspartei! Die französische Wählerschaft ist viel volatiler und nicht zu vergleichen mit der geringeren Wechselwählerbereitschaft in Deutschland. Das deutsche Parteiensystem ist viel stabiler und konsolidierter.

Trotz des unterschiedlichen Wahlrechts nutzt aber doch die AfD in Deutschland ähnliche Strukturen aus. Sehen Sie das anders?

Dass Parteien Konfliktstrukturen ausnutzen und mobilisieren, gehört einfach zum Wettbewerbssystem von Parteien. Die AfD hat aber kein so klares soziales Programm wie der Rassemblement National (RN) unter Le Pen. Kaufkraftverlust zu thematisieren, ist vollkommen legitim, viel legitimer als die xenophobische Karte gegen Zuwanderung und Europa. Der RN in Frankreich hat ein stärkeres sozial-nationales Profil als die AfD in Deutschland. Die AfD löst aber ein gewisses Repräsentationsproblem in Deutschland.

Wie das?

Es gibt in Deutschland zehn bis fünfzehn Prozent der Wähler, die sich von etablierten Parteien nicht repräsentieren lassen wollen. Und da bietet sich die AfD als sprichwörtliche Alternative an. Dabei ist sie aber in semidemokratische Bereiche abgedriftet mit deutlich antisystemischen Rändern. Im europäischen Vergleich sind die zehn Prozentpunkte, die sie im Bund erreicht, nicht gewaltig. In Ungarn regieren Rechtspopulisten mit absoluter Wählermehrheit, in Polen europaskeptische Nationalisten mit relativer Mehrheit, in Frankreich haben wir das Dreifache an rechtspopulistischen Wählern im Vergleich zu Deutschland, in Italien ist die Lega relativ stark, in Österreich liegt die FPÖ trotz aller Skandale bei 17 Prozent. Da kann die AfD zum Glück nicht mithalten.

In Deutschland gibt es nur ja oder nein, schwarz oder weiß

Es wird jetzt immer von einer Spaltung Frankreichs gesprochen, die haben wir hier auch?

Sie ist anders. In Frankreich gibt es  eine starke sozioökonomische Spaltung, in Deutschland haben wir die Konflikte im kulturellen Bereich. Da streiten sich aber nicht Klassen, sondern die Mittelschicht – die Akademiker gegen die weniger gebildeten unteren Mittelschichten, die Angst vor dem Abstieg haben. Bei uns wird über die Genderfrage, Identität, Corona und die Klimakrise gestritten. Das ist hier alles sehr moralistisch und unversöhnlich. Da gibt es nur ja oder nein, schwarz oder weiß, moralisch oder unmoralisch. Das sind Mittelschichts- kaum aber Klassenfragen.

Aber das befriedet doch?

Ja, klar. Aber die breite Mittelschicht ist eben nicht homogen. Da streiten sich die mit dem Uni-Zeugnis mit jenen, die sich an die Seite gedrängt fühlen. Es geht um einen anderen Lebensstil: Öko-Urlaub gegen den Mallorca-Flug, E-Cars gegen den Diesel. Den Moralismus sehen wir jetzt wieder beim Ukraine-Konflikt: Erbittert wird da zwischen Waffenlieferern und Waffenverweigerern gestritten. Paradoxerweise sind da die Vertreter der Waffenlieferung die Moralisten. Diesen verbissenen Moralismus findet man in Frankreich nicht.

An die Frankreich-Wahl haben viele Beobachter sogar den Fortbestand des europäischen Projekts geknüpft. Ist Europa als politische Konstruktion eines gemeinsamen Vorgehens wirklich so gefährdet?

Zunächst ist es erst mal gerettet. Die Gefahr kommt nicht aus Frankreich. Die Probleme liegen in der EU zwischen West- und Osteuropa. Das wird stark akzentuiert im Ukraine-Konflikt. Die Ost-Länder positionieren sich ganz anders als die im Westen. Das werden eminente Zukunftsfragen für eine EU, die sich sicherheitspolitisch stärker aufstellen will und muss. Die Paris-Berlin-Achse funktioniert vielleicht gerade nicht supergut, aber sie funktioniert. Das Weimarer Dreieck Warschau-Berlin-Paris funktioniert mit dem heutigen Polen und seinen antideutschen Ressentiments dagegen nicht. Es werden zwischen Ost- und Westeuropa Konflikte aufbrechen, auch neu belebte historische Unversöhnlichkeiten etwa auf polnischer und baltischer Seite. Da haben Frankreich, Deutschland oder Südeuropa nicht die gleichen Interessen und Präferenzen, wie die Anrainerstaaten an der Grenze zu Russland und dem aggressiven Putin-Regime.

Keine Führungsfigur in Europa

Das lässt sich wohl nur im Ausgleich der Interessen befrieden. Wer ist denn nun die Nummer eins in Europa: Olaf Scholz oder Emmanuel Macron?

Weder noch. Sie können es nur zusammen sein. Für Scholz war die Zeit zu kurz zur Entwicklung europäischer Initiativen. Zu schnell kam der Ukraine-Krieg. Mit den anderen beiden Koalitionsparteien sind aber zwei klassische proeuropäische Parteien in der Ampelkoalition. Deutschland hat von Gerhard Schröder über Angela Merkel bis hin zu Olaf Scholz in der EU eine eher zögerliche Rolle angenommen. Ich sehe keine deutsche Führung in Europa. Osteuropa will das nicht, Polen schon gar nicht. Wir haben gegenwärtig keine wirkliche Führungsfigur in Europa.

Ist das gut oder schlecht?

Das ist schlecht. Es wäre schon gut, wenn es die gäbe. Es müsste natürlich eine integrative Führung ohne nationale Dominanz sein. Der Einzige, der das konnte, war in jüngerer Zeit Helmut Kohl. Adenauer war westeuropäisch, Brandt war sehr fixiert auf die Ostpolitik-Frage. Irgendwann konnte Kohl beides.

Olaf Scholz brüstete sich gleich nachdem die Wahlergebnisse verkündet worden waren  damit, Macron als Erster gratuliert zu haben. Was sagt das aus?

Es ist wohl der etwas ungelenke Versuch, zu sagen, wenigstens mit Paris verstehe ich mich. Scholz bekommt gerade viel Druck aus Osteuropa. Wenn jetzt noch mit Marine Le Pen eine Antieuropäerin aus dem Westen dazugekommen wäre, hätte nur Scholz die Führung in der EU übernehmen können. Die geht aber nicht ohne Passion und Vision. Dafür braucht er Macron. Ich sag’s nicht gerne: Zur Achse Berlin-Paris gibt es für ein dynamisches Europa keine Alternative.