„Sehr schlimmes Weihnachtsfest“

Corona-Wutrede von Lothar Wieler: „Das Kind ist in den Brunnen gefallen“

Lange galt der Chef des Robert-Koch-Instituts als stoischer Ruhepol der Pandemie. Nun ist ihm in einem Video der Kragen geplatzt. So ernst sieht er die Lage.

Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI)
Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI)dpa/Kay Nietfeld

Berlin-Als „Wutrede“ und „Brandrede“ eilt das Video durch die sozialen Medien. „Das Kind ist in den Brunnen gefallen“, sagt darin – sichtbar frustriert – der RKI-Chef Lothar Wieler. Von 52.000 gemeldeten Corona-Neuinfizierten würden in den nächsten Wochen 400 sterben. „Daran kann keiner mehr etwas ändern, mit bester medizinischer Versorgung nicht“, sagt Wieler. Die Fall-Verstorbenen-Rate habe in den vergangenen Wochen 0,8 Prozent betragen.

Selten hat man Lothar Wieler so verzweifelt gesehen wie in diesem Video, das am Mittwochabend bei einer Online-Diskussion mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) entstand. Man spürt seinen Frust über die Politik: „Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern.“

Ein Auf und Ab anhand der Statements

Seit bald zwei Jahren sitzt Lothar Wieler regelmäßig vor der Presse, vermeldet die Zahlen von Infizierten und Verstorbenen. Die Lage ist mal „besorgniserregend“, mal „sehr ernst“, mal „leicht entspannt“. Das Auf und Ab der Pandemie lässt sich an Wielers Statements ablesen, meist auch verbunden mit Empfehlungen an die Bürger: „Bitte helfen Sie alle mit, halten Sie Abstand, beachten Sie die Hygieneregeln“ – „Bitte schränken Sie Ihre Kontakte auf das Nötigste ein.“

Der Ton hat sich kaum verändert in der Zeit. Auch das Erscheinungsbild nicht: der blaue Anzug, meist getragen mit der weiß gepunkteten Krawatte. Die Haare scheinen etwas grauer geworden zu sein, doch das kann auch ein falscher Eindruck sein. Aber im Innern Wielers muss sich viel verändert haben, seit er am 27. Februar 2020 zum ersten Mal mit einem Corona-Briefing vor die Presse trat.

„Wir haben es mit einem Virus zu tun, das wir erst seit sehr kurzer Zeit kennen und über das wir fast täglich neue Informationen erhalten“, sagte Wieler an jenem Donnerstag im RKI-Gebäude am Nordufer in Berlin-Wedding. Auf die Frage der Berliner Zeitung nach dem schlimmsten Szenario sagte Wieler: Das wäre eine Epidemie, etwa vergleichbar mit der Grippewelle 2017/2018 mit 25.100 Toten.

Eine Person, die polarisiert

Welche Opfer diese Pandemie wirklich fordern würde, konnte sich Lothar Wieler damals nicht vorstellen. Und auch nicht, wie sich seine eigene Rolle dabei ändern würden. Bis zu jenem Tag kannte kaum jemand das Robert-Koch-Institut (RKI) – die zentrale Einrichtung des Bundes auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention. Auch Lothar Wieler war nur Fachleuten bekannt. Der Mikrobiologe und Tierarzt, 1961 im nordrhein-westfälischen Königswinter geboren, war Professor an der Freien Universität (FU) Berlin und geschäftsführender Direktor am Institut für Mikrobiologie und Tierseuchen, bevor er 2015 Präsident des RKI wurde.

Nahezu von einem Tag auf den anderen wurde er deutschlandweit bekannt. Seine Person polarisiert die Gesellschaft, wie er es sich als Wissenschaftler kaum hätte vorstellen können. Wenn in der Öffentlichkeit behauptet werde, er wolle Lockdown statt Freiheit, „dann nehmen die Drohungen, auch die Morddrohungen, massiv zu“, sagte Wieler erst jüngst. Sollte ihm jemand Schaden zufügen, „wäre das bitter für mich und meine Familie“, erklärte Wieler, der verheiratet ist und zwei erwachsene Töchter hat. „Das Risiko hält mich aber nicht ab von meiner Pflicht.“

Wegen seiner unaufgeregten, sachlichen, präzisen Art sehen ihn viele als Ruhepol in der Pandemie. Er sei die „idealtypische Besetzung“, sagte ein alter Forscherkollege. Wieler nehme „der Pandemie mit seinem stoischen Vortrag den apokalyptischen Stachel“, schrieb der Spiegel.

Kritik am RKI und Lothar Wieler

Gleichwohl haben das RKI und auch Wieler selbst viel Kritik einstecken müssen – zuletzt Anfang Oktober, weil das Institut die Zahl der geimpften Menschen in Deutschland zu niedrig angegeben habe. Andere kritisierten, dass sich Zahlen des RKI widersprächen und dass die Sieben-Tage-Inzidenz weiter Leitindikator für die Pandemie bleibe, obwohl sie kaum etwas aussage über die wirkliche Zahl der ernsthaft Erkrankten und die Infektions-Sterblichkeit. Laut RKI sind die Inzidenzen aber ein wichtiges Maß für die Entwicklung der Pandemie. Man könne daran ablesen, was kurze Zeit später auf den Intensivstationen los ist.

Lothar Wieler selbst sagte, dass das Institut in der Pandemie „personell wie finanziell“ an seine Grenzen gestoßen sei. Wieler sei „zu nah dran an der Linie der Bundesregierung“, kritisierte dagegen eine FDP-Politikerin. Er sei mitverantwortlich für die langen Schulschließungen, behauptete ein Grünen-Politiker. Dabei hatte Wieler noch im November 2020 trotz hoch schießender Inzidenzen davon abgeraten, die Maßnahmen durch die Schließung von Schulen und Kitas noch auszuweiten. Das Infektionsgeschehen an den Schulen lasse sich kontrollieren, sagte er.

Wieler erinnerte daran, früh Warnungen vor einer vierten Welle ausgesprochen zu haben. Er bezog sich dabei auf beispielhafte Entwicklungen in Portugal, Großbritannien und den Niederlanden. Das diesbezügliche Dokument des RKI wurde jedoch als „Panik-Papier“ bezeichnet. Die Politik habe zu schnell bestimmte Bereiche geöffnet, kritisierte Wieler. „Clubs und Bars sind Hotspots, aus meiner Sicht müssen die geschlossen werden“, sagte er jetzt. Großveranstaltungen müsse man absagen. Kontakte seien einzuschränken.

Wieler wies auch die Forderungen der Liberalen zurück, das RKI künftig unabhängig von Gesundheitsministerium aufzustellen. „Wäre das RKI völlig losgelöst wie ein Max-Planck-Institut, dann hätten wir überhaupt nicht den Hebel, die gesundheitspolitischen Vorhaben fachlich so intensiv zu beraten“, sagte er. Außerdem zeigte sich, dass es durchaus Dissens zu bestimmten Fragen gibt. So widersprach auch  Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der RKI-Auffassung, dass die Sieben-Tage-Inzidenz weiter Leitindikator für die Pandemie bleiben soll. Diese verliere mit steigender Impfrate an Aussagekraft.

Wielers Wutrede trifft gleichwohl auf viel Zuspruch. Bei Twitter gehört #DankeWieler zu den deutschlandweiten Trends. Schon einen Tag nach der Veröffentlichung ist die Zahl der Neu-Infektionen auf über 65.371 gestiegen. Hinter den offiziellen Meldungen stecke eine doppelt bis dreimal so hohe Dunkelziffer, sagt Wieler in seinem Video. Mit seinem kühl-zurückhaltenden Ton ist es in dieser vierten Welle längst vorbei. „Jeder, Mann und Maus, der impfen kann, soll jetzt gefälligst impfen“, fordert er. „Sonst kriegen wir diese Krise nicht in den Griff.“