Kommentar

Wie die Politik sich und die Demokratie gleich mit abschafft

Das Berliner Wahldesaster erweist sich als immenses Zerstörungswerk: Eine Demokratie, die ihr Heiligstes – Wahlen! – nicht schützen kann, gibt sich selbst auf.

In einigen Berliner Wahllokalen wurde am Sonntag noch deutlich nach 18 Uhr gewählt<br>
In einigen Berliner Wahllokalen wurde am Sonntag noch deutlich nach 18 Uhr gewählt
BLZ/Paulus Ponizak

Berlin-Zu den drängendsten Fragen nach dem Berliner Wahlsonntag gehört wohl, in welchem Loch all die Wahlzettel verschwunden sind. Warum niemand damit rechnen konnte oder wollte, dass in der deutschen Hauptstadt eine im Voraus bekannte Zahl von Wahlberechtigten ihr grundgesetzlich verbürgtes Wahlrecht in Anspruch nimmt und also tatsächlich in die Wahllokale kommt: Kann das, bitteschön, jemand mal erklären? Die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis räumte zwar verschiedene „Probleme“ ein, wollte aber keine persönlichen Konsequenzen aus der Wahlkatastrophe ziehen und wies stattdessen auf die Verantwortung der zuständigen Bezirkswahlleitungen: Sie hätten schließlich die Stimmzettel zu bestellen und zu verteilen.

So überlassen wir die Demokratie den Staatsfeinden

Womit sie die Verantwortung nach unten durchreichte. Dabei wäre das doch Chefsache. Denn es geht hier um sehr viel, nicht zuletzt um einen Schaden für die Demokratie selbst: Wahlen, frei und also unbeeinträchtigt, sind die wichtigste Legitimation eines demokratisch verfassten, rechtsstaatlichen Gemeinwesens; jede Unregelmäßigkeit oder auch Nachlässigkeit beschädigt hier die Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit. Davon ist zum Beispiel auch das für unser Gemeinwesen so wichtige Ehrenamt betroffen: Unzählige Wahlhelfer harrten in Gebäuden mit unzureichender sanitärer Ausstattung und ohne minimale Verpflegung bis tief in die Nacht aus, um Stimmen auszuzählen; jetzt stehen sie als die Deppen da, die bei ihrem Dienst für die Allgemeinheit versagt haben.

In Berlin ist ein immenses Zerstörungswerk zu besichtigen. Die Folge ist eine nachhaltige Verdrossenheit gegen die Politik und ein grundsätzliches Misstrauen gegen den Staat. Der Irrsinn liegt eben darin, dass hier ohne jede Not entscheidendes Terrain preisgegeben wird: Ganz ohne den allfälligen staats- und institutionsfeindlichen, quasi-revolutionären Furor von Verschwörungsideologen, Querdenkern oder auch Rechtsradikalen schafft sich die Demokratie selbst ab, indem sie ihr Heiligstes – Wahlen! – nicht schützt. Anders gesagt, die Rede von „Problemen“ bei der Wahl kommt einer Abwicklung der Politik durch sich selbst gleich, sie ist eine Selbstaufgabe des Politischen. Eine Landeswahlleiterin, die da persönliche Konsequenzen zieht, wäre wohl das Mindeste.

Offenbar fehlt den Akteuren die politische Spannkraft

Es geht nicht um Anekdoten von überforderten Bezirkswahl- oder Wahllokalleitern in Berlin, über die man sich in München oder sonstwo in der Republik amüsieren mag. Es geht ums Große und Ganze. Dabei mag auch die Aufklärung über die Gründe für die Wahlkatastrophe hilfreich sein: Bislang war von der Corona-Pandemie die Rede, einem Marathonlauf quer durch Berlin, die schönen, spätsommerlichen Temperaturen … Das alles sind gewiss vollkommen neue und unvorhersehbare Umstände. Doch fragen wir einmal ganz ernsthaft: Fehlt der Demokratie und ihren Akteuren die politische Spannkraft? Allgemeiner: Sind wir alle etwas demokratiemüde geworden? Nehmen wir einfach hin, dass ein Virus oder auch das Wetter unser Allerheiligstes zerstören?

Und schon weitet sich das Zerstörungswerk aus. Denn weil Wahllokale weit nach 18 Uhr noch geöffnet hatten, könnten die bereits veröffentlichten Prognosen die Menschen bei ihrer Wahl beeinflusst haben: Grund genug, die Wahlen in Berlin anzufechten! Möge sich niemand damit beruhigen, dass eine solche Anfechtung keine Chance hätte. Das Berliner Wahldebakel wird uns noch lange nachhängen.