Interview

Charité-Psychiater Andreas Ströhle: „Ängste funktionieren wie Alarmanlagen“

Was fürchten wir? Sind die Deutschen besonders ängstlich, oder gibt es sie gar nicht, die berühmte „German Angst“?

Viele Menschen fürchten, sich das Leben in der Großstadt nicht mehr leisten zu können, oder generell mit der aktuellen gesellschaftlichen Situation nicht zu Rande zu kommen. 
Viele Menschen fürchten, sich das Leben in der Großstadt nicht mehr leisten zu können, oder generell mit der aktuellen gesellschaftlichen Situation nicht zu Rande zu kommen. Dragan Denda für Berliner Zeitung am Wochenende

Herr Professor Dr. Ströhle, der Report der R&V Versicherung von 2022 benennt 20 Ängste, die die Deutschen im vergangenen Jahr besonders umgetrieben haben. 67 Prozent der Deutschen fürchten demnach beispielsweise steigende Lebenshaltungskosten. Schlechtere Wirtschaftslage ist eine weitere Angst, steigende Miete ebenso. Das klingt alles recht bodenständig. Inwiefern unterscheiden sich diese aktuellen Szenarien von den Ängsten, die die Deutschen in der Vergangenheit plagten?

Auch dazu gibt es eine Statistik der Versicherung: die Top-Ängste der Deutschen in den vergangenen 15 Jahren. Bereits 2008 führten die steigenden Lebenshaltungskosten das Ranking an, das war das Jahr der internationalen Bankenkrise. In den Jahren 2011 bis 2015 spielte die Schuldenkrise der EU eine große Rolle und in den beiden Jahren darauf die vermehrte Furcht vor Terrorismus. Bemerkenswert war das Jahr 2018, da stand die Furcht vor der Politik des damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump ganz oben.

Man kann also an den dokumentierten Ängsten der Deutschen retrospektiv auch immer gut ablesen, was geopolitisch und gesellschaftlich passiert ist?

Ja, genau.

Aber was genau bedeutet Angst in diesem Zusammenhang? Liegen die Menschen wirklich nachts wach und können nicht schlafen, weil sie Donald Trump fürchten oder beispielsweise die „Überforderung des Staates durch Geflüchtete“?

Angst kann unterschiedliche Facetten haben, das reicht von der Todesangst bis zu der Sorge, dass meinen Kindern auf dem Schulweg etwas zustoßen könnte. Was hier unter dem Begriff Angst subsummiert wird, sind eher Sorgen und Befürchtungen, die die Menschen beschäftigen und wenn man die Menschen zu ihren „Ängsten“ befragt, dann nennen sie sehr häufig die Themen, die in den Medien aktuell präsent sind. Das sind recht oberflächliche Befragungen, da wird nicht nachgehakt, inwiefern die Befürchtungen das Handeln und Tun der Befragten beeinflusst oder gar verändert.

Prof. Dr. med. Andreas Ströhle an der Charité
Prof. Dr. med. Andreas Ströhle an der CharitéStephan Pramme

Ab wann wird die Befürchtung denn zur Angst? Gibt es dafür bestimmte Parameter?

Sorgen und Befürchtungen sind für uns Aspekte der Angst. Die Angst kann unterschiedliche Erscheinungs- und Manifestationsformen haben, von der Panikattacke mit Todesangst bis zur erwähnten Sorge oder dem dauerhaften negative Grübeln über bestimmte Dinge, die uns zustoßen könnten. Angst kann aber auch auftreten bei einer Konfrontation mit einem bestimmten Objekt, so zum Beispiel, wenn ich die Straßenseite wechsele, weil ich einem Hund aus dem Weg gehen möchte. Das wäre dann eine klassische Tierphobie und eine Angst, die nicht nur eine Gedankenspiel ist, sondern mich bereits maßgeblich in meinem Handeln beeinflusst. Die Palette der Ängste ist groß: Sorge, Furcht, Panik, Vermeidung, die sich in körperlichen und gedanklichen Handlungsweisen sowie im Verhalten und den Emotionen zeigen können.

Ab wann wird die Angst denn krankhaft?

Angst wird ab dem Zeitpunkt zur Krankheit, wenn sie übersteigert wird und mich daran hindert, Dinge zu tun, die ich tun möchte oder muss. Wir hatten beispielsweise mal eine Patientin mit einer Kakerlaken-Phobie …

Vollkommen verständlich!

Aber doch nicht in Deutschland. Da wird man kaum mit Kakerlaken konfrontiert. Die Patientin hatte aber in Asien produzieren lassen und wurde in der Fabrik, mit der sie zusammenarbeitete, ständig mit diesen Insekten konfrontiert. Die Phobie schränkte sie also massiv in ihrer Tätigkeit ein, sie war krankheitswertig, wie man sagt. Es hat teilweise auch mit der Lebenssituation zu tun, die bestimmt, ob so ein Symptom zur Krankheit wird.

Aber hatte die Frau wirklich Angst vor Kakerlaken, oder steht das Insekt dann für etwas anderes?

Kakerlaken sind ein extremes Beispiel. Es ist aber häufig zu beobachten, dass bezüglich bestimmter Objekte und Situationen die Wahrscheinlichkeit größer sein kann, eine spezifische Phobie zu entwickeln, wenn diese Objekte und Situationen in der Geschichte der menschlichen Entwicklung eine wichtige Bedeutung hatten. Also beispielsweise das Feuer, große Höhe, Weite, Tiefe oder der Ekel vor Spinnen oder Ratten, Tiere, die potenziell gefährlich für Menschen sein konnten. Das kommt häufiger vor als vielleicht eine Phobie vor Ampeln oder Zebrastreifen. Man kann aber grundsätzlich allem gegenüber einer phobischen Reaktion entwickeln. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist nur unterschiedlich hoch.

Was würden Sie als die ungewöhnlichste Phobie bezeichnen, mit der Sie in Ihrem Arbeitsleben konfrontiert wurden?

Die bislang ungewöhnlichste Phobie, mit der ich zu tun hatte, betraf den Piloten einer großen Fluggesellschaft, der Flugangst entwickelte und der sich vor einer Therapie nach einem neuen Betätigungsfeld umsah und auch dann wirklich aus seinem alten Beruf ausgestiegen ist. Der Mann wollte sich nicht weiter mit den potenziellen Gefahren seines Berufs konfrontieren. Die Sorgen, was bei einem Flug passieren könnte, hatten bei dem Mann eine übersteigerte Angstreaktion getriggert. Der Mann konnte seine Ängste nicht mehr relativieren.

Prof. Dr. med. Andreas Ströhle an der Charité
Prof. Dr. med. Andreas Ströhle an der CharitéStephan Pramme

Woher kommt das?

Da spielen individuelle Faktoren eine Rolle, die im Rahmen einer Therapie aufgearbeitet werden. Der Pilot wollte keine Therapie machen, daher weiß ich nicht, was in seinem individuellen Fall der Auslöser war. Im Allgemeinen sind es Stressoren, also innerliche oder äußerliche Reize, die dafür sorgen, ob wir für Ängste mehr oder weniger empfänglich sind. Man kann sich das vorstellen wie eine Alarmanlage: Ist diese besonders empfindlich eingestellt, geht sie sehr schnell los. Salopp gesagt: Ängste sind Alarmanlagen.

Sind wir denn ängstlicher geworden?

Bislang gibt keine eindeutigen Hinweise darauf, dass die Häufigkeit von Angsterkrankungen in den letzten 30 Jahren gestiegen ist. Erfreulich ist aber, dass die Akzeptanz gegenüber Angsterkrankungen deutlich zugenommen hat. Man kann heute viel freier darüber reden, der Umgang mit der Angst hat sich sehr verändert. Es ist keine Schande mehr, eine Angsterkrankung zu haben und diese zu benennen und zu thematisieren.

Aber unser Leben ist doch sicherlich komplizierter als das vor, sagen wir mal, 150 Jahren. Waren die Menschen damals gelassener, weil die Herausforderungen weniger komplex waren?

Ich denke nicht, dass die Menschen damals weniger Ängste auszustehen hatten. Der Bauer hat sich sicherlich auch Sorgen gemacht, ob der Regen kommt oder die Dürre. Denkt man nur einmal an die Lebensumstände in Berlin zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so bezweifele ich, dass diese angenehmer waren als heute. Viele Menschen lebten in einem beengten, schmutzigen und auch gefährlichen Umfeld und die Herausforderungen, die das Leben an diese Menschen stellte, waren sicherlich nicht kleiner als heute. Man muss aber auch sagen, dass damals weniger bewusst mit der Angst umgegangen wurde. In der Corona-Zeit war ich sehr überrascht, wie vernünftig ein sehr großer Teil der Menschen doch mit der Situation umging, sich einrichteten und anpassten, man kann also nicht sagen, dass wir diesen Situationen und Ängsten hilflos gegenüberstehen.

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Foto: Stephan Pramme
Zur Person
Prof. Dr. Andreas Ströhle, 58, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Spezialambulanz für Angsterkrankungen am Campus Charité Mitte in Berlin.

Ströhle forscht seit Jahrzehnten zum Thema Angststörungen und arbeitet ebenso lange mit Angstpatienten. Er ist gemeinsam mit Dr. Jens Plag Autor des Buches „Keine Panik vor der Angst! Angsterkrankungen verstehen und besiegen“, erschienen im Kailash Verlag.

Sie fanden die Corona-Maßnahmen also angemessen?

Im Nachhinein ist man immer schlauer und kann dann Dinge nach ihrer Sinnhaftigkeit beurteilen. Wer wusste damals schon, nachdem er die Bilder der Leichen in Italien gesehen hat, dass das hier nicht auch so kommen wird? Und mit diesem Wissen im Hinterkopf haben die Deutschen recht besonnen auf die Pandemie reagiert. Nur die wenigsten haben versucht, die Ängste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

In den oben erwähnten Top Ten der Ängste der Deutschen ist aber interessanterweise nur ein einziger Punkt, der mit Corona zu tun hat, und zwar die Angst vor Leistungskürzungen im Rahmen der Pandemie. Das Virus selbst scheint keine Rolle zu spielen.

Das zeigt deutlich die Unschärfe und Fehlerhaftigkeit solcher Umfragen. 2020, im ersten Jahr der Pandemie, war die Trump-Politik noch auf Platz eins, die Umfrage wird wohl im Sommer davor gemacht worden sein, Corona trat ja erst Ende 2019 mit aller Macht in unser Leben. Hätte man die Umfrage im Februar 2020 gemacht, wäre Corona wahrscheinlich auf dem ersten Platz gelandet.

Gibt es denn geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Ängsten?

Im Großen und Ganzen nicht, aber Frauen leiden doppelt so häufig an Angsterkrankungen wie Männer. Warum das so ist, ist noch nicht eindeutig geklärt, wahrscheinlich spielen evolutionäre Aspekte eine Rolle. Und die Tatsache, dass sich in diesem Umstand die klassische Rollenverteilung widerspiegelt: Frauen haben Angst um den Nachwuchs, Männer geben sich mutiger, weil sie mit der Nahrungssuche „beauftragt“ sind. Das Männer sich oft überschätzen, hängt aber nicht mit mangelnder Intelligenz zusammen, sondern eher mit den Hormonen, die die kognitive Leistungsfähigkeit in bestimmten Situationen reduzieren. Ängste und mögliche Bedrohungen werden dann weniger wahrgenommen.

Sie meinen, wenn das Testosteron am Steuer sitzt?

So könnte man das sagen. Was die Frauen betrifft, weiß man aus Studien, dass die zyklischen Hormonschwankungen anfälliger für Ängste machen. Männer haben diese Schwankungen nicht. Zum großen Teil sind unsere Ängste hormonell gesteuert. Deswegen ist es so wichtig, sich wirklich rational mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen, sich zu fragen, welche Gefahr wirklich besteht. Menschen, denen das nicht gelingt, laufen oft Gefahr, eine Angsterkrankung zu entwickeln.

Kann man fragen, ob das den Deutschen ganz gut gelingt? Wir gelten als rational und vernünftig.

Im Gegenteil: Eine Zeit lang hieß es ja, dass die Deutschen besonders ängstlich sind, was ihren Wohlstand und ihre Sicherheit anbelangt, aber es gibt zurzeit keine verlässlichen Ländervergleiche. Solche vergleichenden Studien sind auch immer mit Vorsicht zu genießen, denn da wird ja selten herausgearbeitet, wer denn dieser repräsentative Deutsche sein soll. Aber „The German Angst“ ist schon ein Begriff, der weltweit bekannt war. Aber die Pandemie hat gezeigt, dass das so nicht mehr gilt.

Gibt es denn da lokale Unterschiede? Gibt es spezifische Ängste, die beispielsweise in Berlin besonders häufig auftreten?

Grundsätzlich nicht. Wenn eine Stadt beispielsweise keine U-Bahn hat, werden Menschen mit einer Agoraphobie damit auch keine Schwierigkeiten haben und zu diesem Problem keine Hilfe suchen. Es ist auch nicht so, dass die äußeren Umstände allein bestimmen, welche Angst zum Problem wird.

Das ist interessant, denn spirituelle Ängste tauchen in der oben genannten Umfrage überhaupt nicht auf. Niemand fürchtet sich mehr vor Gottes Zorn?

Das mag so scheinen, aber ich glaube, dass spirituelle Aspekte eher im privaten Bereich eine Rolle spielen, Religion ist in Deutschland ja primär eine private Angelegenheit. Das ist auch eine Frage der Lebensphase, 15- bis 18-Jährige beispielsweise würde selten Angst vor dem Tod nennen, bei Menschen im hohen Alter ist das natürlich wieder ganz anders.