Kateryna Suchomlynowa erinnert sich an ein 16-jähriges Mädchen, das in einer zerbombten Straße in Mariupol auf dem Asphalt saß. Es war in der zweiten Märzwoche. Glut schwelte unweit in einem ausgebrannten Auto vor sich hin. Ein verkohlter Leichnam saß hinter dem Lenkrad, eine Frau lag etwas weiter entfernt in einer Blutlache auf der Straße.
Suchomlynowa beugte sich über die Frau irgendwo zwischen Leben und Tod. Die Schwerverletzte flüsterte ihr zu, dass das Mädchen ihre Tochter sei und der Tote im Auto deren Vater. „Sie nahm mir das Versprechen ab, ihre Tochter zu retten“, sagt Suchomlynowa. Sie packte also das Mädchen unter den Achseln und brachte es in ein Krankenhaus. Die Mutter musste sie zurücklassen.
Kateryna Suchomlynowa, 44 Jahre alt, ist eine Frau, die einem ihr fremden Gesprächspartner mit einem Lächeln die schief sitzende Schutzmaske zurechtzupft, als wäre er ein alter Bekannter. Vielleicht ist es ihr Helferinstinkt. Sie arbeitete in Mariupol im Büro der Hilfsorganisation Malteser. Sie organisierte dort unter anderem Malkurse für Kinder, die aus den von prorussischen Separatisten besetzten Gebieten geflüchtet waren. Suchomlynowa engagierte sich auch in der Lokalpolitik und saß im Stadtrat.
Die Ukrainerin spricht auch in Paris und in Bratislava über Mariupol
Ihr beherzter Blick und ihr Lächeln verschwinden, sobald sie von den vergangenen Wochen spricht. Sie entkam Mitte März mit einem Konvoi aus der belagerten und zerstörten Stadt. Das Pilecki-Institut, eine 2017 vom polnischen Parlament ins Leben gerufene Einrichtung zur Erinnerung an den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, hat sie eingeladen, in Berlin über Mariupol zu sprechen. Suchomlynowa will auch in Paris und Bratislava Zeugnis ablegen von ihren Erlebnissen in der von den Russen zerstörten Stadt.
Krieg ist einfach tausendmal schlimmer als alle Bilder, die wir kennen.
Die Malteserin erinnert sich an die Wochen vor dem russischen Angriff am 24. Februar. Viele Bewohner packten einen Rucksack mit Dokumenten, Medikamenten und Proviant für die Flucht. Auch die Malteser trafen Vorkehrungen für den Ernstfall. Suchomlynowa zweifelt heute daran, dass die Bemühungen der letzten Friedenstage wirklich einen Nutzen hatten. „Krieg ist einfach tausendmal schlimmer als alle Bilder, die wir kennen aus den Nachrichten. Darauf kann man sich eigentlich gar nicht sinnvoll vorbereiten“, sagt die Helferin.
Die Helferin spricht von Genozid
Als die ersten russischen Raketen am 24. Februar in Mariupol einschlugen, habe sie mit einer maximal zehntägigen Notsituation und im schlimmsten Fall mit Straßenkämpfen wie bereits 2015 gerechnet, berichtet sie. Damals hatte die ukrainische Armee Mariupol von den Separatisten zurückerobert. Es gab einige Dutzend Tote in der Stadt. Was aber seit Ende Februar geschah, bezeichnet sie als Genozid.
Wir haben uns überall vor herumfliegenden Splittern versteckt.
Die Malteser barrikadierten sich in den ersten Tagen nach dem Angriff in ihrem Büro. Suchomlynowa öffnet ihr Smartphone. Sie zeigt Fotos von Menschen, die dort im WC-Raum unter einem Waschbecken kauern. „Wir haben uns überall vor herumfliegenden Splittern versteckt“, sagt Suchomlynowa. Das Handy habe immer wieder geklingelt. Verzweifelte, die Verletzte in ein Krankenhaus bringen wollten, meldeten sich von allen möglichen Orten in der Stadt. „Wir sind dann los, obwohl pausenlos bombardiert wurde“, sagt sie.
Immer mehr Leichen lagen in Mariupol am Straßenrand
Das Krankenhaus am linken Ufer des Mariupol in zwei Hälften teilenden Flusses Kalmius sei rasch am Ende seiner Kapazitäten gewesen, erzählt Suchomlynowa. Der gefährliche Weg führte über Brücken auf das rechte Ufer des Kalmius zu einem weiteren Krankenhaus. Jeden Tag hätten, wenn sie dort entlangfuhren, mehr Leichen den Straßenrand gesäumt. „Die Menschen sind mit Granaten beschossen worden, wenn sie die Bunker verließen, um Feuer zu machen und Essen zu kochen“, sagt sie.
Die starken Brisen vom Asowschen Meer hätten die Flammen nach jedem Beschuss angefacht, bis die ganze Stadt brannte. Der Rauch habe sich rasch mit Verwesungsgeruch gemischt. „Viele Menschen sind in den ersten Tagen einfach in ihren Wohnungen erfroren oder verdurstet. Es gab ja keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser mehr. Und in den Nächten hatten wir minus 15 Grad.“
Auch die Malteser mussten aus Mariupol fliehen
Mitte März rückten die russischen Truppen so weit vor, dass die Malteser ihr Büro aufgaben und in den unbesetzten Teil der Stadt flohen. Dort verbrachte Suchomlynowa zwei Tage im Luftschutzbunker. „Wir konnten ja nicht einmal raus, um unsere Bedürfnisse zu erledigen. Das mussten wir voreinander mithilfe einer Plastiktüte machen.“



