Wie schön, wenn man als langjährige Gastrokritikerin einige Kochbiografien in dieser Stadt über die Jahre mitverfolgen kann. Zum Beispiel die von Nadav Kundel. Zum ersten Mal gegessen habe ich bei diesem talentierten Koch im Night Kitchen in den Heckmann-Höfen – wohl kurz nachdem er von Tel Aviv nach Berlin zog.
Das muss rund fünf Jahre her sein. Persönlich kennengelernt habe ich ihn erst, als er Küchenchef des Club-Restaurants Papillon wurde. In dieser Glitzerwelt mit unzähligen Spiegeln, goldenen Kugellampen, verschiedenen Bars und DJ-Bereich, die der Event-Veranstalter Felix Brandts unter den S-Bahnbögen am Zoo erschaffen hat, behauptete Nadav Kundel sich kulinarisch tapfer.
Essen ist für die meisten Menschen im Papillon eher Nebensache. Primäres Ziel, so schien mir bei meinem Besuch, war es seitens der Männer, mit ihren hart erarbeiteten Muskeln zu flexen; die Frauen führten im Gegenzug Lippen, Brust und Gucci-Bags vor.

Wie Berlin kulinarisch tickt
Ganz so gemein beschrieb ich das damals natürlich nicht. Lieber lobte ich ausdrücklich Kundels aromenstarke Kroketten aus geschmorten Rinderrippchen mit ihrer stimmigen Meerrettich-Mayo sowie das safrangebeizte Carpaccio aus Kohlrabi mit Stracciatella-Käse. Ich wies aber bereits im Texteinstieg darauf hin, dass Erwartungsmanagement bei diesem Laden wohl entscheidend sei: „Wer Foodie ist und exzellent essen will, kann jetzt aufhören weiterzulesen“, schrieb ich. „Wer sich jedoch mehr nach Spaß sehnt und einem Abend, der sich wie ein Clubbesuch anfühlt, sollte fortfahren.“
Ein paar Wochen nach Erscheinungsdatum bekam ich eine nette Mail von Nadav Kundel, in der er mich um ein Treffen bat. Es sei sein erstes Mal, dass er in einer Gastrokritik professionell besprochen wurde. Er dankte mir dafür, auch für das – in seinen Augen – faire Urteil. Beim Treffen in einem Café interessierte ihn detailliertes Feedback zu seinen Tellern, auch ging es ihm darum zu verstehen, wie diese Stadt kulinarisch tickt.

Mich beeindruckte dieser gewissenhafte Mann, der im Papillon mit seinem Talent und Anspruch so offensichtlich falsch aufgehoben war. Für kurze Zeit verantwortete Nadav Kundel noch Brandts nächstes Abenteuer mit, das Scirocco am Kudamm, das bereits wieder zugemacht hat.
Längst also war es Zeit für diesen Koch, sein eigenes Ding zu machen. Jetzt ist es so weit: Vor ein paar Wochen eröffnete er zusammen mit seinem Cousin Gil Azrielan das Saint Farah, benannt nach ihrer Großmutter. Ich weiß, ich habe mich mal darüber lustig gemacht, ob irgendwo ein Büchlein unter israelischen Gastronomen kursiert, in dem als Tipp für die Namenswahl steht: „Wichtig ist eine Hommage an die Großmutter – im Idealfall eine mit Vergangenheit in Deutschland.“ Das ist hier nicht der Fall, glücklicherweise ist sie dafür wohl zu spät geboren.
Auch ist das Saint Farah keines der beliebigen Großmütter-Restaurants mit Levante-Küche und „Jerusalem Bagel à la Grandma“. Nein, das Saint Farah ist ein außergewöhnlich zeitgeistiges Restaurant, das mich an meine derzeitigen Lieblingsläden wie etwa das Ita Bistro, die Brasserie November und Jolie sowie auch das New-York-Style-Deli Bertie erinnert.

Dabei haben Nadav Kundel und sein Team jedoch nicht einfach den Spruch „Besser gut kopiert als schlecht selbstgemacht“ beherzigt. Das greift zu kurz, vielmehr haben sie ihre Hausaufgaben gemacht, sich inspirieren lassen und viel recherchiert. Nadav Kundel etwa, erzählt er mir, war in London im vollkommen zu Recht gehypten Restaurant Fallow, er aß sich quer durch Berlin, die Lieblingskreationen schließlich haben es auf die Teller im Saint Farah geschafft – nur noch besser: etwa die dreifach frittierten Fries in Sambal-Buttersauce mit karamellisierten Zwiebeln. Sie sind die perfekte Grundlage für sehr fair bepreiste Drinks und Weine. Ein rheinhessischer Pinot Blanc von Johanninger und ein ungefilterter Pinot Gris fließen hier nämlich vom Tap, also aus dem Hahn. Auch so eine Idee – aus London abgeguckt.
Reverenz an die Oma
Ich beginne mit der Auswahl von vier Mezze-Tellern für 32 Euro: Die geviertelten Minigurken in Parmesan-Miso-Caesar-Dressing mit klaren Zitrusnoten und einem Crumble aus gerösteter Chili und allerlei Samen sind schon mal der Hammer. Der leicht fermentierte, prickelnde Kohlrabi in einer Haselnussmilch-Vinaigrette mit Estragonöl bleibt trotz schwarzer Knoblauchcreme aromatisch dagegen blasser, weil auch ein bisschen fettarm. Doch als neutralisierender Snack fühlt er sich für mich richtig an, weil ich mir nun eine intensive Pilzpâté auf die selbstgebackene Pitabrot-Stange schmiere. Bei so viel Umami ist kaum zu glauben, dass sie vegan ist.
Toll sind die Zimt-Sherrynoten und der Butternut-Kürbis als Gel dazu. Aromatisch sehr stark ist auch „Farahs gegrillter Mangold mit Lamm“. Hier kommt sie, die Reverenz an die Großmutter, die ihm seit jeher nach kurdischem Rezept Weinblätter mit Reis und Lamm macht – allerdings hat er sein Kindheitsgericht mit ein paar Neuerungen versehen: Zum Dippen hat Kundel ein süßsaures Rote-Bete-Ketchup kreiert, dazu das saftige Lammhack in Mangold gepackt und diese Röllchen wie Bún chả gegrillt und gewürzt, weil er dieses vietnamesische Gericht liebt.
Als Feuerquelle dient übrigens ein alter Pizzakuppelofen, eine Hinterlassenschaft vom italienischen Vorgängerladen Marina Blu, den Axel Burbacher betrieb. Dieser umtriebige Berliner Urgastronom ist auch einer der großen Unterstützer von Neuling Kundel. Eine bessere Location als unten am Weinbergsweg an der Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Mitte hätte dieser sich nicht erträumen können. Auch ästhetisch funktioniert der Laden, er ist familiär und schick zugleich.

Meine Lieblinge unter den in Ofen, Land, Gemüse und Ozean eingeteilten Hauptgerichten sind: die kleinen und unglaublich saftigen Miesmuscheln, die Kundel auf einem Pitabrot serviert, ähnlich wie im Bertie das Fladenbrot mit eingebackener Muschel-Bouillabaisse. Nur schmeckt dieser dickflüssige Muschelfond mit Reiswein, viel Butter, krossem Speck und einem Chili-Crisp obenauf noch besser.
Am liebsten gleich nochmal. Nur stehen bereits sautierte sowie frittierte Austernpilze in einer herrlich buttrigen Ajo-blanco-Soße vor mir, mit Sumach und Sauerteig-Croutons verfeinert. Mir bleibt nur zu sagen: Herzlichen Glückwunsch, Nadav Kundel – auch für die Entscheidung, in diesen Zeiten den Schritt ins eigene Restaurant zu wagen. Ich mache mir aber null Sorgen, meine Prognose ist: Das Saint Farah wird blitzschnell unter die Top Ten in seiner Kategorie aufschießen.




