„Das hier also war ihr Zuhause“, sagt Russell Nash fast feierlich und blickt durch das goldumrankte Gitter des Hoftors von Kensington Palace. „Er mag zwar nicht so bekannt sein wie der Buckingham Palace, aber er spielte im Leben der königlichen Familie eine wichtige Rolle.“ Welche tragischen und herzzerreißenden Momente der Royals sich tatsächlich hinter den eher schlichten Backsteinmauern mit den hohen Sprossenfenstern abspielten, mag auch der versierte London-Führer nur erahnen.
Mit seinen Geschichten aber erweckt Nash die Höhen und Tiefen der berühmtesten Palastbewohner zum Leben. Er erzählt von der unglücklichen Queen Victoria, die hier im Palast geboren wurde und aufwuchs. Ihre deutsche Mutter, Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld, verwitwete Fürstin zu Leiningen und neuvermählte Herzogin von Kent, war hochschwanger mit der späteren Jahrhundertmonarchin aus der Odenwälder Provinz nach London gezogen. Mit acht Monaten verlor die kleine Victoria ihren Vater und wechselte vom ungeliebten Kensington Palace nach ihrer Krönung als 18-Jährige in den Buckingham Palace.
Nash springt von einer Generation zur nächsten und entlockt den königlichen Biografien farbenprächtige Details. Er erzählt von der Krönung Queen Elizabeths II. und von den wilden Partys ihrer Schwester Margaret mit den Rolling Stones. Und natürlich von den Prinzen William und Harry, von Kate und Meghan, von Prinzessin Diana und dem späteren König Charles III.

„Die Touristen zieht es zum Buckingham Palace, zum Tower und nach Windsor“, sagt Nash. „Kensington ist jedoch genauso Teil des königlichen London.“ Nach einer früheren Karriere als Puppenspieler, Schauspieler, Journalist und Schmuckhändler zeigt der Londoner heute vor allem ausländischen Besuchern als Geschichtenerzähler seine Heimatstadt.
Zur Krönung am 6. Mai wird es eng in den Straßen von London
Ob nun königstreu oder nicht, als glühende Anhänger des Königshauses oder überzeugte Antimonarchisten – am 6. Mai werden Zehntausende Schaulustige aus dem Vereinigten Königreich und der ganzen Welt die Krönungsprozession zwischen Buckingham Palace und der Westminster Abbey verfolgen und hoffen, einen Blick auf Charles III. und Camilla zu erhaschen. Dann wird es eng in der britischen Hauptstadt.
Londonern und Touristen, denen das Gedränge am Straßenrand oder um die für die Liveübertragung aufgestellten Großleinwände im Hyde, St. James’s und Green Park zu anstrengend wird, bleibt Kensington als alternativer royaler Fluchtpunkt. Hier können sie sich abseits des Massenansturms auf Spuren der Frischgekrönten und ihrer bewegten Familiengeschichte begeben.

Der Buckingham Palace mag hinter säuberlich aufgereihten King’s Guards und gepflegten Tulpenbeeten eine hochherrschaftliche Fassade für eine Königsfamilie stellen, an deren unumstößliche Bestimmung immer weniger glauben. Der Kensington Palace hingegen steht bei vielen Briten auch für den Zweifel an gottgegebenen Würdenträgern und königlichen Traditionen – gerade jetzt, wenn zum 40. Mal seit dem Jahr 1066 in der Westminster Abbey ein königliches Haupt gekrönt wird.
Sowohl Kate und William, als auch Harry und Meghan waren eine Zeit lang nach ihrer Heirat im Kensington Palace zu Hause. Hier lebten Charles und Diana nach ihrer pompösen Hochzeit 1981. Lady Di hatte hier bis zu ihrem Tod ihre offizielle Residenz.
„Ich war, kurz nachdem ich von ihrem Unfall erfahren habe, hier“, erzählt Nash. „Auch ich habe wie unzählige andere Blumen niedergelegt. Es war ein Meer von Blumen, das sich weit in den Park hineinzog.“ Der London-Führer zeigt die Stelle in einem Park, wo die Princess of Wales gerne verweilt haben soll. Im Sunken Garden hinter dem Palast erinnert seit 2021 eine Statue Dianas umgeben von drei Kindern an ihre Wohltätigkeit. „Diana war anders als alle zuvor“, sagt Nash. „Die Menschen werden ihr Mitgefühl und ihre Güte in Erinnerung behalten.“

Vom Palast schlendert Nash durch die Kensington Gardens hinüber zum Round Pond, wo jauchzende Kinder Heerscharen von Tauben, Möwen und Gänsen füttern. Eine Truppe Schwäne betrachtet das Treiben mit aristokratischer Überheblichkeit. „Die Monarchie sehen viele wie eine Seifenoper“, sagt Nash, „aber man muss die Personen in dieser Seifenoper von der Institution trennen.“ Die Berichterstattung um die Königsfamilie und auch die Krönung von Charles III. und Camilla verfolgt er aufmerksam. „Der König ist ohne Zweifel ein gewissenhafter und emsiger Mensch. Dass seine Popularität nicht überall die höchste ist, liegt sicher auch daran, dass er nicht mehr der Jüngste ist.“
Earl Grey und Sandwiches: Wo auch Meghan schon ausgegangen ist
Der Kensington Palace steht heute zum Teil Besuchern offen und lockt derzeit mit der aufsehenerregenden Ausstellung „Crown to Couture“. Sie zeigt, wie die königliche Mode der Georgianischen Epoche die zeitgenössische Mode auf den roten Teppichen und Shows der letzten Jahrzehnte, unter anderem auch für Stars wie Lizzo oder Lady Gaga inspiriert hat.
Doch nicht nur der Palast lohnt einen Besuch. Wer will, kann sich in Kensington auch auf die Suche nach alltäglichen Orten aus dem Leben der Königsfamilie wie den Chepstow Villas Kindergarten machen, den William und Harry besucht haben. In Kensington gibt es viele Pubs, Bars und Cafés. Über manche munkelt man, dass der ein oder andere Royal hier bereits für einen Drink vorbeischaute. Meghan, die Duchess of Sussex etwa, soll in ihrer Londoner Zeit in der Stables Bar des Hotels The Milestone gesichtet worden sein. Von dem noblen Boutique-Hotel blickt man direkt auf die angrenzenden Kensington Gardens und den Palast.




