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„Mit größter Härte“: In Polen begann der deutsche Vernichtungskrieg

Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Auch General Friedrich Olbricht, Stauffenbergs rechte Hand, nahm daran teil. 

Deutsche Soldaten beim Überfall auf Polen am Grenzübergang Sopot, 1. September 1939.
Deutsche Soldaten beim Überfall auf Polen am Grenzübergang Sopot, 1. September 1939.imago/United Archives International

Mit Burg auf Felsen, Fluss im Tal und Obstbaumblüte zog mein Heimatstädtchen Leisnig zwischen Leipzig und Dresden immer Fremde an. Doch im Sommer 1939 hat es seine Unschuld verloren. Diesmal standen die Sommerfrischler und Einwohner neugierig am Marktplatz. Das aufmarschierte Infanterieregiment 101, drei Bataillone, knapp 3000 Soldaten zu Pferd, zu Fuß, mit Geschützen und Fahrzeugen, verließen ihre Kaserne. Auf den jungen Gesichtern Abenteuerlust, aber auch Ernst. Nur der Kommandeur Generalmajor Hans von Trettau und eingeweihte Stabsoffiziere kannten den genauen Hintergrund des Marschbefehls: Kampf gegen Polen, Grenzübertritt in Schlesien.

Das Sudetenland war längst besetzt, am 15. März 1938 hatte die Wehrmacht auch die „Rest-Tschechei“ okkupiert. Schon einen Tag später sprach Hitler auf der Prager Burg einem anderen Leisniger, dem Kommandeur der 24. Infanteriedivision, General Friedrich Olbricht, seine besondere Anerkennung aus. Für die von Komotau aus in „rücksichtslosem Tempo“ gelungene Besetzung der tschechischen Hauptstadt.

Friedrich Olbricht war 1888 in einem Haus unweit des Leisniger Bahnhofs als Sohn eines Mathematik-Professors und Oberlehrers zur Welt gekommen. Nach einem aufstrebenden Militärleben wurde er neben Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Generalmajor Henning von Tresckow eine Schlüsselfigur beim Attentat am 20. Juli 1944 auf Hitler. Als Leiter des Allgemeinen Heeresamtes hatte Olbricht unter dem Codewort „Walküre“ am Plan für eine Entmachtung des Regimes mitgewirkt. Das Attentat scheiterte, zusammen mit Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften und Mertz von Quirnheim wurde er im Hof des Berliner Bendlerblocks erschossen.

Keine Sympathien für Hitler

Friedrich Olbricht wird mit den anderen führenden Köpfen des militärischen Widerstandes nicht nur bei der jährlichen Berliner Gedenkfeier geehrt. Auch in Leisnig gilt er als teurer Sohn der Stadt. Am Geburtshaus ehrt ihn eine Granittafel. Eine Rotbuche wurde gepflanzt. Und das Mietshaus, in dem ich in den 1950er-Jahren aufwuchs, steht heute am Olbrichtplatz.

Mit der Versetzung des Vaters nach Freiberg, dann nach Bautzen, verließ die Familie Leisnig. Nach dem Abitur ging Olbricht zum Militär, machte den Ersten Weltkrieg mit, wurde Hauptmann. 1920 übernahm ihn die Reichswehr und 1926 das Truppenamt, Abt. „Fremde Heere“. Dienstliche Auslandsreisen führten ihn nach Schweden, Italien, Österreich, in die Balkanländer, 1930 für sechs Wochen durch die Sowjetunion. Seit 1931 war er Bataillonskommandeur in Dresden, erlebte den Aufstieg Hitlers, dem er keine Sympathien entgegenbrachte und doch militärisch folgte. 1937 wurde er zum Generalmajor befördert, war durch seine Kontakte in die Staatsstreichpläne vom Herbst 1938 eingeweiht. Übernahm im selben Jahr dennoch als Kommandeur die 24. Infanteriedivision im Wehrbezirk IV, Dresden-Leipzig-Chemnitz.

Im August 1939 sammelte sich seine Division bei der Stadt Militsch an der polnischen Grenze. Hundert Kilometer südöstlich, beim oberschlesischen Rosenberg, wartete zur gleichen Zeit das Infanterieregiment 101 aus Leisnig. Es gehörte nicht zu Olbrichts Division, sondern zur 14. Infanteriedivision unter General Erich Friderici, der später als Divisionskommandeur einer der Nachfolger von Olbricht wurde. Für alle galt der eine Befehl. Einmarsch in Polen. Das Land war umstellt, Schlesien ein wichtiges Aufmarschgebiet.

Schon Mitte April 1939 hatte Hitler den Kriegsplan gegen Polen in Auftrag gegeben und danach den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 gekündigt. Zu lange hatte für ihn die Warschauer Regierung gezögert, einem gemeinsamen antisowjetischen Bündnis beizutreten.

Ende Mai offenbarte Hitler gegenüber den Chefs von Heer, Marine und Luftwaffe das Ziel des Feldzuges: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und um Sicherstellung der Ernährung … In Europa ist keine andere Möglichkeit zu sehen.“ Ende August 1939 fielen auf dem Obersalzberg in einer Rede Hitlers vor 50 Generälen der aufmarschierten Divisionen alle Masken: „Vernichtung Polens = Beseitigung seiner lebendigen Kraft“.

Ein Militär, der gewissenhaft seine Aufgaben erfüllte

Ein völkerrechtswidriger Feldzug wurde beschlossen. Nach Darstellung des Historikers Winfried Baumgart war Wilhelm Canaris, Chef der deutschen Abwehr, noch am nächsten Tag erschüttert von dieser Ungeheuerlichkeit, als er Teile seiner Stenogrammnotizen Oberst Hans Bernd Gisevius und Oberst Hans Oster vortrug. Beide arbeiteten unter ihm und waren Mitlieder einer Widerstandsgruppe um Hans Beck, die seit 1938 Zeugnisse für einen Sturz des Hitlerregimes sammelte.

Auch Friedrich Olbricht gehörte als Stabschef des 1934 gebildeten Generalkommandos vom Wehrkreises IV in Dresden zu diesem Personenkreis. In seiner Funktion hatte er auch freundschaftlichen Kontakt zu zivilen Gegnern des Nationalsozialismus, wie dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler. Doch wie Canaris blieb Olbricht ein altgedienter schwankender Getreuer des Militärs, der jahrzehntelang gewissenshaft seine Aufgaben erfüllte.

Historikern wie Jochen Böhler ist es zu verdanken, dass der „mit größter Härte“ durchgeführte „Polenfeldzug“ ab 1. September 1939 überhaupt ins Gedächtnis der deutschen Geschichtsschreibung rückte. Zusammen mit wissenschaftlichen Mitarbeitern des Deutschen Historischen Instituts Warschau konzipierte er 2005 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn eine Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in Polen.

Besonders erschütternd ist sein Buch „Auftakt zum Vernichtungskrieg“. Denn darin rekonstruiert er aus Divisions- und Regimentstagebüchern und polnischen Nachkriegs-Prozessakten, was „rücksichtloses Durchgreifen“ gegenüber Polen und Juden hieß.

Am 1. September 1939 überschritt bei Rosenberg auch das Leisniger Infanterie-Regiment 101 die polnische Grenze, „stieß nördlich an Tschentstochau vorbei und weiter über Maluszyn auf Ilza. Bei Solec wurde der Weichselübergang erzwungen und weiter auf Lublin vorgestoßen, das am 18. September erobert wurde.“ So die unerträglich kritikfreie Schilderung im „Lexikon der Wehrmacht“.

Am 12. September, so zitiert dagegen Jochen Böhler das Tagebuch des Regimentsarztes, hatte man in Solec nad Wisłą 30 Juden als Geiseln in einen Keller eingesperrt. Als sie fliehen wollten, wurden Handgranaten geworfen. „Ein rauhes Zupacken. Aber es musste Ruhe werden, so oder so. Der (Trupp-)Führer ließ den Keller zumauern, vorher dickes Feuer machen.“

„Die toten Zivilisten sind schlimm anzusehen“

Das Massaker von Solec durch Leisniger Soldaten ist nur eins der unzähligen Greueltaten, die an allen Frontabschnitten Alltag waren. Auch bei der 24. Infanteriedivision von General Friedrich Olbricht und seiner 24. Infanteriedivision, die sich auf einer anderen Route über Schildberg, Grabo, Warta mit allen Mitteln durchkämpfte. Und an der Bzura bei Lowicz eine entscheidende Schlacht gewann. Hier hatten polnische Kavallerie- und Infanterieverbände versucht, hinter die Linien zu gelangen, wurden aber eingekesselt. 170.000 Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, und unzählige Menschen verloren ihr Leben. Dann folgte das letzte Hindernis im „Kampf um Warschau“.

Aus 70 Geschützen wurden die Verteidiger von Mlociny, dem nördlichsten Stadtteil der polnischen Hauptstadt kurz vor der Weichsel, niedergerungen. An vielen Beispielen rekonstruiert der Historiker Jochen Böhler in seinem Buch das mörderische Vorgehen an allen Frontabschnitten: Massenhinrichtungen von Einwohnern als Rache für angebliche Freischärler, Niederbrennen der meisten Dörfer. Erschießen oder Verbrennen unzähliger polnischer Gefangener und Zivilisten in Scheunen.

Olbricht befehligte die Division meist vom Infanterieregiment 102 aus. Dessen Stabsarzt, Leutnant Hans W., notierte in seinem Kriegstagebuch auf dem Vormarsch bei Warta schon am 7. September, eine Woche nach dem Einmarsch: „Die toten Zivilisten, oft auch Frauen, sind schlimm anzusehen. Es ist heiß, und noch niemand hat gegessen.“ 

Nach der Eroberung Warschaus wurde General Friedrich Olbricht für seinen tapferen persönlichen Einsatz und seine hervorragende Führungskunst am 27. 10.1939 das „Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz“ verliehen.

In einem Tagesbefehl vom 31. Oktober 1939 bedankte er sich für diese hohe Auszeichnung unter anderem mit den Worten: „Ich werde das Ritterkreuz tragen voller Dankbarkeit dafür, dass auch in entscheidungsvollsten Stunden Führer und Truppe mir volles Vertrauen entgegenbrachten.“

Hartmut Sommerschuh lebt als Autor in Potsdam. Von November 1989 bis 2016 war er Redaktionsleiter und Redakteur der Umweltsendereihe „OZON“ im RBB-Fernsehen.

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