Falsches Gedenken

Im Osten benutzt, im Westen gehasst: Die wahre Geschichte der Roten Kapelle

Vor 80 Jahren flog das Anti-Nazi-Netzwerk Rote Kapelle auf. Ihr bewundernswerter ziviler Widerstand sollte statt der Wehrmachtsattentäter geehrt werden.

Harro Schulze-Boysen (r.) wurde am 31. August vor genau 80 Jahren von der Gestapo verhaftet – als Erster des aufgeflogenen Widerstandsnetzwerks Rote Kapelle. Seine Frau Libertas (l.) fiel am 8. September in Gestapo-Hände.
Harro Schulze-Boysen (r.) wurde am 31. August vor genau 80 Jahren von der Gestapo verhaftet – als Erster des aufgeflogenen Widerstandsnetzwerks Rote Kapelle. Seine Frau Libertas (l.) fiel am 8. September in Gestapo-Hände.Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Berlin-Wenn ein Mensch spürt, dass etwas falsch läuft in der Gesellschaft – was soll er tun? Zwölf junge Erwachsene, 16, 17 Jahre alt, stehen vor den Bildern von Hans und Sophie Scholl in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Sie reden. Der Klimawandel ist ihr Thema. Wenn Sophie Scholl trotz der Lebensgefahr aufklären wollte über den Nationalsozialismus, dann sei das ein Vorbild auch für sie selber, sagt eine junge Frau.

Sie sprechen über Straßenblockaden durch Festkleben der „Letzten Generation“ und „Fridays for Future“-Demos. Auch über Putin-Russlands Krieg in der Ukraine und das Verbreiten von Informationen. Ja, handeln sei Pflicht, da sind sie sich einig. Und Mut brauche man dafür heutzutage nicht – kein Vergleich mit der NS-Zeit oder unterdrückter Kritik in Russland.

Im Raum nebenan begegnen die jungen Leute anderen Namen aus der kargen Geschichte des deutschen Widerstands: Mildred und Arvid Harnack, Libertas und Harro Schulze-Boysen sowie Dutzenden anderen. Schon mal gehört. Die Fotos zeigen moderne, meist junge Leute, viele Frauen. Das Stichwort „Rote Kapelle“ sagt ihnen viel weniger als „Weiße Rose“. Schnell sind sie wieder weg. So verpassen sie die Begegnung mit dem interessantesten, vor allem in Berlin aktiven Netzwerk des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

Verhaftung im Ministerium

Der Name „Rote Kapelle“ geht auf eine Erfindung jener Gestapo-Ermittler zurück, die den widerständigen Berlinerinnen und Berlinern auf die Spur kamen, sie verhafteten, vor das Reichskriegsgericht stellten, das reihenweise Todesurteile verhängte. Die Fahnder hatten einen Funkspruch aus der Sowjetunion an einen ihrer Agenten in Brüssel abgefangen; im Frühsommer 1942 gelang die Entschlüsselung. Der Text enthielt Klarnamen und führte sie auf die Spur der Widerständler – sogenannter Pianisten, also einzelner Musiker, die sich zur roten, vermeintlich bolschewistischen Kapelle formten.

Das geschah im Sommer und Herbst 1942, vor 80 Jahren. Von Ende Juli an standen die namentlich entschlüsselten Personen unter Observation. Am 31. August 1942 erfolgte der erste Schlag: Harro Schulze-Boysen, 33, Oberleutnant der Luftwaffe, im Zivilberuf Publizist, wurde in seinem Büro im Reichsluftfahrtministerium festgenommen und in das Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8 gebracht.

Todesurteil wegen Zettelklebens

Am 8. September ergriff man seine Frau Libertas, 29, eine Filmkritikerin adeliger Herkunft, im Zug. Arvid Harnack, 41, promovierter Jurist und Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium und seine Frau Mildred, 39, gebürtige Amerikanerin und Übersetzerin, fasste die Gestapo am 7. September 1942 auf der Kurischen Nehrung. Am 12. September folgten der Dreher und Kommunist Hans Coppi, 26, und seine Frau Hilde, 33, eine Angestellte. Schlag auf Schlag nahm die Gestapo zwischen dem 12. und 16. September 36 Frauen und Männer fest.

Die 19-jährige Abiturientin Liane Berkowitz, gebürtige Berlinerin russischer Eltern, geriet am 28. September 1942 in Gestapo-Haft; sie war im fünften Monat schwanger. Ihr Kind kam in SS-Hände. Sie starb am 5. August 1943 in der Hinrichtungsstätte Plötzensee. Ihr Freund, Friedrich Rehmer, 21, Vater des Kindes, war schon Wochen vor ihr hingerichtet worden. Das Paar hatte gemeinsam mit anderen jungen Leuten Zettel geklebt, einen Appell, den Krieg zu beenden. Das brachte die Anklage „wegen Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zur Feindbegünstigung“ ein. Tod wegen Zettelklebens.

Haken des Galgens im Hinrichtungsraum der Gedenkstätte Plötzensee.
Haken des Galgens im Hinrichtungsraum der Gedenkstätte Plötzensee.Berliner Zeitung/Maritta Tkalec

Kurz vor Weihnachten starben elf Männer und Frauen im speziell für diese Hinrichtungsaktion mit einer Eisenschiene und acht massiven Haken aufgerüsteten Strafgefängnis Plötzensee. Adolf Hitler hatte angeordnet, für die fünf ihm am meisten Verhassten die niedrigste Hinrichtungsart vorzusehen, das Erhängen. Tod durch Fallbeil, die bis dahin gängige Methode, erschien ihm nicht erniedrigend genug. An die Haken knüpfte die NS-Justiz am 22. Dezember zwischen 19 Uhr und 19.20 Uhr im Vierminutentakt Rudolf von Scheliha, Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack, Kurt Schumacher, John Graudenz. Es folgten ab 20.18 Uhr im Dreiminutentakt die Enthauptungen von Horst Heilmann, Hans Coppi, Kurz Schulze, Ilse Stöbe, Libertas Schulze-Boysen, Elisabeth Schumacher.

Warum ging die nationalsozialistische Führung gegen diese Menschen so besonders gnadenlos vor? Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutschen Widerstand, sagt: „Das waren Intellektuelle, junge Frauen und Männer, die der Nationalsozialismus eigentlich vereinnahmt zu haben glaubte. Teile der Elite, die auch hohe Positionen in Verwaltung und Wehrmacht innehatten.“ Mit Widerstand von dieser Seite habe die oberste Führung des Deutschen Reiches nicht gerechnet.

Eine moderne Frau: Die amerikanische Philologin Mildred Fish-Harnack kam 1929 über den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) nach Deutschland. Zusammen mit ihrem Mann Arvid unterstützte sie die antifaschistische Widerstandsgruppe Rote Kapelle. Sie wurde am 16. Februar 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Eine moderne Frau: Die amerikanische Philologin Mildred Fish-Harnack kam 1929 über den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) nach Deutschland. Zusammen mit ihrem Mann Arvid unterstützte sie die antifaschistische Widerstandsgruppe Rote Kapelle. Sie wurde am 16. Februar 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.dpa

Es waren kluge, erfindungsreiche und fantasievolle Menschen, die sich in einem liberalen Netzwerk zusammengefunden hatten, um sich der nationalsozialistischen Propaganda zu widersetzen, über Krieg und Gewaltverbrechen zu informieren. Sie bildeten seit Mitte der Dreißiger erst Diskussions- und Bildungskreise, halfen politisch und rassistisch Verfolgten – eine konsequente Opposition in einer informellen Form, die das Regime bis dahin nicht kannte, völlig anders als die streng und hierarchisch organisierten kommunistischen Gruppen.

Männer und Frauen aus der Mitte der Gesellschaft

Das Netzwerk des Widerstandes, etwa 180 Gleichgesinnte, beeindruckt durch seine weltanschauliche und soziale Vielfalt, seine Modernität und friedfertige Beharrlichkeit. Studenten, Künstler, Publizisten und Verwaltungsbeamte waren dabei, etwa 40 Prozent Frauen. Das gemeinsame, auch jeweils eigenständige Agieren von Frauen und Männern muss für die Zeit als ungewöhnlich gelten.

Aus solchen Gründen steht die Rote Kapelle heutigem Verständnis viel näher als beispielsweise das Agieren einer verschworenen Männergruppe, die das Attentat gegen Adolf Hitler am 20. Juli 1944 vorbereitete. Adelige, Wehrmachtsoffiziere, viele Antisemiten – ihnen gehört bis heute das große alljährliche Gedenkzeremoniell.

Warum also steht die Rote Kapelle bis heute im Schatten statt an erster Stelle? An der Politik liegt es nicht, sagt Johannes Tuchel, an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erst recht nicht. Es wurde geforscht, publiziert, es gab Ausstellungen. Doch, so fügt er hinzu: „Unterschätzen Sie nicht die Macht lang laufender Vorurteile im politischen und wissenschaftlichen Raum.“

Damit umschreibt der Gedenkstättenleiter freundlich die Folgen eines 50-jährigen Kampfes um die Erinnerungs- und Gedenkkultur nach 1945: Ost und West erklärten sie zu Spionen. Tuchel spricht von „einer Vielzahl der Verzeichnungen“. Die DDR-Variante brach nach 1990 zusammen, doch die West-Lügen hielten sich hartnäckig, obwohl aus den zugänglich werdenden Archiven immer mehr Wahrheit ans Licht kam. „Wenn wir vor 20 Jahren das über die Verzeichnung des Bildes durch die Rote Kapelle durch den Bundesnachrichtendienst gesagt hätten, was wir heute wissen, hätte uns niemand geglaubt“, sagt Tuchel.

Wo lag das Problem?

Verzerrte Darstellung in der DDR

Zunächst die DDR-Geschichte: Hier wurde die Rote Kapelle zur straff organisierten, kommunistisch gelenkten, von der Sowjetunion gesteuerten Widerstandsorganisation umdefiniert, die eifrig Geheiminformationen nach Moskau funkte. Umflort mit emotional starker Propaganda wie in dem Defa-Film „KLK an PTX – die Rote Kapelle“, der 1971 Premiere hatte und mit frei erfundenen Geschichten aufwartete, machte sie durchaus Effekt, auch auf die Autorin dieses Textes.

Mittlerweile weiß man aus Akten, wie das Ministerium für Staatssicherheit und Minister Erich Mielke persönlich Sorge trugen, dass der Film mit der Legende von der Roten Kapelle als traditionsbildend für den DDR-Geheimdienst wirken konnte – Vorbild für die „Kundschafter des Friedens“ im Kalten Krieg. Diese Ost-Geschichte ist wenig überraschend.

Schwere Diffamierung im Westen

Anders die West-Geschichte; sie erschüttert: Die Gestapo hatte die Rote Kapelle als „Bolschewistische Hoch- und Landesverratsorganisation im Reich und in Westeuropa“ eingestuft und nach Kräften deren Wirkung übertrieben, um die eigene Leistung bei der Enttarnung in helles Licht zu stellen. Nach 1945 malten die ehemaligen Angehörigen des Reichskriegsgerichts und die weiterhin in BRD-Geheimdiensten aktiven ehemaligen Gestapo-Leute weiter an diesem Zerrbild und tradierten die NS-Version der Geschichte. So hielt sich laut Tuchel die Mär von den im Bund mit den Bolschewisten agierenden Landesverrätern hartnäckig selbst in der Verfassungsschutz-Spitze bis in die 1980er-Jahre.

Seither beweist eine Vielzahl von Dokumenten, dass es weder eine straffe Organisation gab noch Funksprüche, außer einer Probesendung mit dem Inhalt: „1000 Grüße allen Freunden“. Die von der Gestapo neben Flugblättern, marxistischen Schriften und Material zum Russischlernen gefundenen Funkgeräte gingen nie in Betrieb – sie waren untauglich, konnten nicht bedient werden.

„Das Funken hat nicht geklappt, aber Ost wie West brauchten das Senden als Teil der jeweiligen Legende“, sagt Tuchel, „deswegen hat es so lange gedauert, bis die Rote Kapelle so gesehen werden kann, wie sie war: faszinierend in ihrer Differenziertheit, ihrer Entwicklung, ihren Facetten“. Nichts bleibe mehr übrig von dem plump antikommunistischen Bild, das die Gestapo 1942 zeichnete. Im Jahr 2006, ganze 63 Jahre nach der Hinrichtung Harro Schulze-Boysens, hob die Staatsanwaltschaft Berlin endlich das Urteil des Reichskriegsgerichts wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“, „Kriegsverrat“, „Zersetzung der Wehrkraft“ und „Landesverrat“ auf.

70 Männer und Frauen waren bis Ende September 1942 von der Sonderkommission Rote Kapelle festgenommen worden, bis Ende Oktober stieg die Zahl auf weit über einhundert. Mehr als 50 Menschen wurden zum Tode verurteilt, viele weitere zu Haftstrafen. Vier Männer begingen Suizid, andere wurden ohne Verfahren ermordet.

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland blieb beschämend schwach. Die Rote Kapelle gehört zum Besten, das wir haben. Deutschland hat Jahrzehnte gebraucht, um sich ehrlicher zu machen. Hierzulande weiß man, wie übel eine fortdauernde Misere der Erinnerungskultur, das Beharren auf Zerrbilder wirkt. Deshalb wohl auch die Sensibilität, wenn in Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit der Antisemit und NS-Kollaborateur Stepan Bandera geehrt wird.

In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand kommen derzeit in der Sonderausstellung Zeitzeugen zu Wort: „Überlebende der Roten Kapelle sprechen“, Mo.–Fr. 9 bis 18 Uhr, Sa. und So. 10–18 Uhr