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Wie während der Corona-Pandemie die Regeln der Wahrheitsfindung ignoriert wurden

Am Beispiel des unkorrekten Narrativs der „Pandemie der Ungeimpften“ zeigt sich, welche Folgen verfälschende Informationsverzerrungen haben können.

Eine Frau mit Maske während der Corona-Pandemie im Jahr 2021
Eine Frau mit Maske während der Corona-Pandemie im Jahr 2021Angelos Tzortzinis/dpa

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Unsere wissensbasierte Informationsgesellschaft scheint auf eine Wahrheitskrise zuzusteuern. So fordern mehrere internationale Organisationen wie das World Economic Forum und die Europäische Union, gegen „Misinformation“ (Falschinformation) und „Desinformation“ (gezielte Falschinformation) vorzugehen, da vor allem Desinformation, die von politischen und ökonomischen Interessen, aber auch von Affekten und Impulsen getrieben ist, den nötigen rationalen Diskurs in Demokratien behindert. Die Unsicherheit über den Wahrheitsgehalt von Informationen wird jüngst noch verschärft durch die rasch aufkommende generative KI, die im digitalen Wissensraum immer schwerer zu identifizierende Simulationen von Wahrheit und Wirklichkeit herstellt, verstärkt durch Social Media.

Auch warnten die WHO und die UNESCO während der Corona-Pandemie vor gesundheitsbezogener Misinformation: „Die Verbreitung von Falschinformationen über Gesundheit stellt eine wachsende Bedrohung für die Gesellschaft dar, denn immer mehr Menschen beziehen ihre Gesundheitsinformationen über Suchmaschinen oder aus den sozialen Medien.“ Solche Warnungen vor Falschinformation sind zunächst zu unterstützen. Allerdings: Was ist „wahre“ Information, also „Richtiginformation“? Und: Wer ist im Besitz dieser Information? „Die Wissenschaft“? Und wenn ja, warum?

Sitz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf
Sitz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in GenfElena Duvernay/imago

Derartige Grundfragen versucht die Philosophie mit ihren Spezialgebieten seit vielen Jahrhunderten zu beantworten, neuerdings im Rahmen der Informationsphilosophie. Die Systemtheorie der Information und Kommunikation ermöglicht ein einfaches und nützliches Bezugsmodell. Es baut auf vier vernetzten Grundkomponenten auf, nämlich dem Sachverhalt, dem Sender, der Information und dem Empfänger: „Information“ wird durch Signale beziehungsweise Zeichen, also Texte, Bilder oder Daten, „getragen“, die als „Bedeutung“ einen Gegenstand (oder Sachverhalt) repräsentieren, „über“ den sie informieren, und zwar „von“ einem Sender „für“ einen Empfänger im Rahmen einer Kommunikation.

Bei dem Informationsempfänger als erlebendes Subjekt wird kognitive Unsicherheit reduziert beziehungsweise bei unerwarteter Information kognitive Unsicherheit gesteigert. Information erzeugt also Wissen, grenzt aber auch vom Nichtwissen ab. Bedeutung und Relevanz einer Information sind darüber hinaus von Kontexten der kommunizierenden Akteure abhängig.

Dieses Grundmodell lässt bereits viele mögliche Fehlerquellen der Information über den interessierenden Gegenstand erkennen: fehlerhafte Beobachtungen und Überlegungen des Senders, fehlerhaft formulierte Texte, Wirkungsabsichten des Senders (das Glas ist noch halb voll oder schon halb leer), selektive Wahrnehmungen, Interessen und Kontexte des Empfängers oder dessen fehlerhafte Weitergabe der Information.

Die eine Wahrheit gibt es nicht

Ein relevanter Aspekt der Informationsträger (Texte) ist deren Bedeutung, also der Bezug zur „Wirklichkeit“ des interessierenden Gegenstands. Wirklichkeit lässt sich als erfahrungsgestützte Konstruktion der Sinne und des Geistes verstehen, die – vor allem im Kontext der Wissenschaft – zuverlässig (reliabel) und gültig (valide) sein soll. Doch Sinnestäuschungen (oder Messfehler), Denkfehler (oder fehlerhafte Datenanalytik) und Einstellungen lassen mit dem Kommunikationsforscher und Psychotherapeuten Paul Watzlawick fragen: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“

Dieser Zweifel gilt auch für die methodisch ausgeklügelten Erkenntnisse der Wissenschaft, denn eine definitive Aussage über die Wirklichkeit ist durch die genannten Faktoren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer Fehlaussage disponiert. Das kann fallweise zur Falschinformation führen, die als „Irrtumswahrscheinlichkeit“ im Kontext „guter“ Wissenschaften mit kommuniziert werden muss, gemeinsam mit den Vertrauensintervallen, innerhalb derer der wirkliche Wert sehr wahrscheinlich liegt. Letztlich sind auch die Kontexte der Wissensproduktion zu offenbaren. Wissenschaftler sollten daher vor allem mit öffentlichen Informationen besonders verantwortungsvoll agieren und kommunizieren.

Impfung mit Corona-Impfstoff im Jahr 2021
Impfung mit Corona-Impfstoff im Jahr 2021Ying Tang/imago

Aufgrund dieses wissenschaftsimmanenten Risikos der Falschinformation, deren Falschheit oft erst durch Fehler in der Anwendung klar wird, haben die Medizin beziehungsweise die Gesundheitswissenschaften Qualitätskriterien für sichere Information entwickelt, die als „evidenzbasierte Medizin“ bekannt sind. Zur Reduktion von Irrtümern bei Interventionsempfehlungen gilt dabei als Goldstandard die Forschungslogik der kontrollierten Studien, möglichst mit (geblindeten) Zufallszuteilungen der Probanden in Placebo- versus Interventionsgruppen.

Diese hohe Stufe der Informationssicherheit wurde erstaunlicherweise bereits in der ersten postakuten Phase der Corona-Pandemie im Sommer 2020 weitgehend ignoriert und durch massenmedial präsentierte eminente Exzellenzen, die paternalistisch beziehungsweise maternalistisch auftraten, ersetzt.

Gegen solche Informationsunsicherheiten helfen deshalb in demokratischen Gesellschaften und Institutionen grundsätzlich diskursive Pro-und-kontra-Mechanismen zur Wahrheitsfindung: Gerichtsurteile stützen sich im Regelfall auf das Verhältnis von Rede der Anklage und Gegenrede der Verteidigung. Wissenschaft ist gleichartig strukturiert, denn eine Konsenstheorie der wissenschaftlichen Wahrheit („Alle Wissenschaftler sagen …“) ist ebenso wie eine Kohärenztheorie („Das passt zu bisherigen Erkenntnissen“) unzulänglich. Das wurde allerdings während der Corona-Krise wenig beachtet.

Das Impf-Narrativ wurde rasch umgedeutet

Verfälschende Informationsverzerrungen treten vor allem auf, wenn mehrere Kommunikatoren beteiligt sind, von Instituten der Wissenschaft über Massenmedien und die Politik bis zur Bevölkerung. Dazu aus der Corona-Zeit ein Beispiel: Nach Implementierung der Impfung im Winter 2020/2021 wurde im Sommer 2021 das öffentliche Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“ generiert, nachdem die damalige Direktorin der Center of Disease Control, Rochelle P. Walensky, aufgrund der amerikanischen Todesstatistiken des ersten Halbjahres davon gesprochen hatte, dass die Pandemie eine Pandemie der Ungeimpften „wird“ („is becoming“). Die New York Times und andere Medien sprachen dann umgehend von „ist“ statt von „wird“.

In diesem Kontext stellte dies auch US-Präsident Joe Biden fest. Er machte darüber hinaus Facebook für die damals fast 50 Prozent Ungeimpften mitverantwortlich, sodass diese Plattform einen narrativkonformen Faktencheck implementierte, der allerdings nun durch die Trump-Regierung wieder aufgelöst wird.

Rochelle P. Walensky spricht 2023 in einem Senatsausschuss.
Rochelle P. Walensky spricht 2023 in einem Senatsausschuss.Bonnie Cash/imago

Damit kursierte das Narrativ der „Pandemie der Ungeimpften“ in der westlichen Welt, und es wurde wissenschaftlich und politisch intensiv wie ein Informationsvirus repliziert. Aber bereits am 9. September 2021 widersprach Eric Topol, einer der bekanntesten Mediziner in den USA und keinesfalls ein Impfgegner, pointiert dieser Aussage. Er wies darauf hin, dass unabhängig vom Impfstatus alle Treiber der Pandemie sind, wenngleich er das Hauptgewicht bei den Ungeimpften sah. Doch noch im Sommer 2022 wurde dieses Narrativ vehement verbreitet und regulatorisch umgesetzt („Nur Geimpfte dürfen …“).

Die Aufklärung dieses unkorrekten Narrativs dauerte in Deutschland bis zum Sommer 2024, als unter dem Druck von Journalisten einsehbar war, dass Forschern am RKI bereits am 21. November 2021 bekannt war, dass die Impfung wenig vor der Ausbreitung schützt. Die selektive Wahrnehmung der Politik mit ihren Restriktionen gegenüber Ungeimpften war fatal und führte zu einer Spaltung der Bevölkerung, die sich bisher nicht recht hat überbrücken lassen.

Diese bedenkenswerte Informationstransformation beruht also keineswegs nur auf der Schwierigkeit, wissenschaftliche Zahlen und deren Dynamik in allgemein verständliche und neutrale Worte zu fassen, oder auf einer Wissenschaftsskepsis der Bevölkerung – sie ist offensichtlich von der jeweils amtierenden Politik mitverursacht.

Die allgemeine gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft, möglichst robustes Wissen zu generieren, muss auch innere Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung transparent machen. Wissenschaft ist getrieben vom Prozess zunehmender Präzisierung der Messungen durch Verbesserung des Signal-zu-Rauschen-Verhältnisses und deren logischen und quantitativen Analysen.

Wissenschaft findet nur durch Diskurse, welche neben Empirie auch Theorie umfassen, zu belastbaren Wahrheiten über die Wirklichkeit, wie uns Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie der Wissenschaften zeigen. Da unsere Welt einem ständigen Wandel unterworfen ist, besteht schon deswegen eine „Replikationskrise“ für die angewandten Wissenschaften, insbesondere für die Medizin und vor allem bei Epidemien als dynamischen Systemen.

Jens Spahn auf einer Bundespressekonferenz im Jahr 2021
Jens Spahn auf einer Bundespressekonferenz im Jahr 2021IPON/imago

Diese immanente Volatilität des Wissens zu akzeptieren ist schwer, und so verwundert es nicht, dass Massenmedien als kritisches Korrektiv der herrschenden Politik bereits gegen Ende 2020 eine Cancel Culture von kritischen Informationen und Informanten realisierten, weil sie angeblich Misinformation oder gar Desinformation verbreiteten. Auf diese Weise verlor unsere Gesellschaft damals den kritisch-kontroversen Diskurs in einer Art Bermudadreieck zwischen Wissenschaft, Politik und Medien.

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Diese Wahrheitskrise der evidenzzentrierten Gegenwartsgesellschaft zeigt also, dass sich Misinformation auch auf wissenschaftliche Irrtümer oder sich verändernde Erkenntnisse erstrecken kann. Ein transparenter, offener wissenschaftlicher Diskurs ist daher essenziell, um Gewissheit über Informationen herzustellen und Vertrauen in Forschung und Wissenschaft zu stärken – anstatt vorschnell und autoritativ festzulegen, was als „wahre“ Information zu gelten hat. So kann auch Desinformation besser entgegengewirkt werden.

Felix Tretter ist ehemaliger Klinikleiter, Nervenarzt, Suchtmediziner, Systemforscher und Vizepräsident des Bertalanffy Center for the Study of Systems Science (Wien) sowie Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (Berlin/Augsburg). Sein Buch „Wissensgesellschaft im Krisenstress. Corona & Co.“ erschien 2022 im Verlag Pabst, Lengerich.

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