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Verdienen Karl Schlögel oder die Nato einen Friedenspreis?

Unser Autor zieht Bilanz: Wer hat einen Friedenspreis tatsächlich verdient? Und was muss geschehen, damit Russlands Krieg gegen die Ukraine endlich ein Ende findet?

Karl Schlögel, Historiker und Publizist, wird nach seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn vom Publikum beklatscht.
Karl Schlögel, Historiker und Publizist, wird nach seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn vom Publikum beklatscht.Hannes P. Albert/dpa

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Man tut Karl Schlögel wohl nicht unrecht, wenn man ihn als bekennenden Vertreter einer harten, kompromisslosen militärischen Antwort auf die russische Aggression gegen die Ukraine einordnet. In zahlreichen Interviews hat sich der Historiker und Russlandkenner in der Debatte um die Beendigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine in die Rolle eines wissenschaftlichen Kronzeugen der „Falken“ emporgeschwungen. Mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels wurden ihm nun – wie schon davor der Vorkämpferin gegen die „Achse des Bösen“ Anne Applebaum – hierfür die höheren friedenspolitischen Weihen verliehen.

Angesichts der überwiegend positiven Aufnahme dieser Ehrung auch durch linksliberale Medien, aber auch der weiterhin kontrovers geführten Debatte über die Beendigung des Krieges in der Ukraine muss die Frage neu gestellt werden, inwieweit die Position der „Falken“ nicht doch als friedenspolitisch rational, sprich zielführend, einzuschätzen ist.

Für Pazifistinnen und Pazifisten, für die allein das Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ als friedliebend gilt, stellt sich diese Frage gar nicht erst. Aus ihrer ethischen Perspektive verbietet sich die Frage, ob töten und getötet werden „zielführend“ sein könne. Diese tun sich aber auch schwer mit einer Antwort auf die Frage, wie anders als mit militärischer Gewalt, als durch einen Siegfrieden gegen Nazi-Deutschland, man Adolf Hitlers Angriffskrieg hätte beenden können.

US-amerikanische Soldaten kurz vor der Landung in der Normandie am D-Day während des Zweiten Weltkrieges
US-amerikanische Soldaten kurz vor der Landung in der Normandie am D-Day während des Zweiten WeltkriegesUnited Archives International/imago

Sieg- oder Verhandlungsfrieden?

Für Vertreter einer Friedenspolitik, die auf Kriegsvermeidung durch eine Kombination aus militärischer Abschreckung und Diplomatie, auf Willy Brandts Motto der „starken, aber ausgestreckten Hand“ setzen, stellt sich die Frage, ob Wissenschaftler wie Schlögel oder Verteidigungsbündnisse wie die Nato einen Friedenspreis verdient haben, anders. Im Fall der Beendigung des Angriffskriegs auf die Ukraine lässt sich der Unterschied zwischen „Falken“ und Vertretern der „starken ausgestreckten Hand“ auf den Gegensatz zwischen einem kompromisslosen Siegfrieden gegen Wladimir Putin und einem kompromissbereiten Verhandlungsfrieden mit Putin zuspitzen.

Diesbezüglich hat Schlögel – auch unter Verweis auf das Scheitern der Appeasement-Politik gegenüber Hitler – immer wieder vor Verhandlungen mit Putin und einem dabei unvermeidlichen Kompromissfrieden gewarnt. Es ist kein Missverständnis, ihn im Fall Ukraine dem Lager der Falken zuzuordnen. Seine Begründung: Putins Kriegsziele, die zugrunde liegende Ideologie und die Methoden seiner Kriegsführung seien derart aggressiv, irreversibel und völkerrechtswidrig, dass jede ausgestreckte Hand ihm gegenüber grundsätzlich ausgeschlossen sei. Zudem würde jede auf Kompromissen beruhende, der Gewalt nachgebende Diplomatie nur weitere Kriege nach sich ziehen.

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Sollten die Einschätzungen zutreffen, dass Putins Russland für eine rationale, interessensbezogene Friedenspolitik – vergleichbar mit Hitlers „Sieg oder Untergang“-Haltung – nicht zugänglich ist, müsste man in einem Siegfrieden über Russland tatsächlich den einzigen Weg zu einem dauerhaften Frieden sehen. Eine Falkenposition wäre also im Fall Ukraine als Friedenspolitik legitimiert, wenn der Nachweis gelänge, dass Putin mit Hitler gleichzusetzen wäre. Schlögel diagnostiziert in seinen Texten „schlagende Parallelen“.

Was Hitler anbetrifft, kann man wohl als gesichert festhalten, dass sein Krieg u.a. durch drei Merkmale charakterisiert war. Er basierte erstens auf einer expliziten antihumanistischen Ideologie der historischen Notwendigkeit der Durchsetzung des Stärkeren, des Bösen gegen alle zivilisatorischen Regeln. Zweitens zielte er auf Weltherrschaft. Und drittens war er gezielt auf die Vernichtung von Menschen, von Völkern, gerichtet. Damit verkörperte er das absolut Böse, gegenüber welchem sich jede ausgestreckte Hand verbietet.

Der britische Premierminister Neville Chamberlain mit Adolf Hitler
Der britische Premierminister Neville Chamberlain mit Adolf HitlerAGB Photo/imago

Keine Gründe für eine Fortsetzung des Krieges

Eine kompromisslose Falkenposition wäre also nur dann friedenspolitisch gerechtfertigt, wenn der Nachweis erbracht wäre, dass Putins Russland – ähnlich wie Hitlers Deutschland – das absolute Böse verkörpert. Von einem solchen Nachweis ist in Schlögels Beiträgen und denen anderer Hardliner nichts zu erkennen. Seine Rede war die eines respektablen Anwalts von Freiheit und Demokratie – nicht jedoch eine, die überzeugende Gründe liefert, einen Frieden mit Putins Russland abzulehnen. Handfeste Erkenntnisse, die eine Fortsetzung des Krieges bis zur Niederlage Russlands zwingend erscheinen lassen, sucht man vergeblich:

1. Seine empathischen Schilderungen über die Kriegswirkungen auf die Menschen in der Ukraine sind eine glaubwürdige und fulminante Anklage gegen das Verbrechen eines Angriffskrieges. Sie zeigen seine Betroffenheit, liefern aber keine Belege für einen Vernichtungskrieg vergleichbar mit dem des Nazi-Regimes. Folglich auch nicht für die Unmöglichkeit eines Verhandlungsfriedens.

2. Seine Analyse der historischen Ursachen der Besetzung der Krim 2014 und des Angriffskriegs 2022 ist von einer für einen Russlandkenner erstaunlichen Ratlosigkeit gekennzeichnet („dann aber kam Russlands Besetzung der Krim“). Nichts zum Wandel Putins vom Europäer zum Anti-Europäer zwischen 2001 und 2008; einem Wandel, der davon zeugt, dass Putin keine in Stein gemeißelte aggressive Programmatik verfolgte. Lässt sich aus solch eher laienhaft anmutenden „Analyse“ von Putins Strategie tatsächlich eine verantwortbare Position gegen Verhandlungslösungen ableiten?

3. Seine belegbare Aussage, dass Putin (und auch Teile der russischen Bevölkerung) die westliche Lebensform ablehnen und „abwehren“ (sic!), wird gleichgesetzt mit der durch nichts belegten Behauptung, dass es Putins Kriegsziel sei, diese Lebensform offensiv auch hierzulande zu beseitigen.

4. Seine Analyse fokussiert auf die russische Gesellschaft und hebt den Aspekt der stalinistischen Erblast hervor. Damit lässt sich zwar deren Neigung zum Autoritarismus begründen, nicht aber die Unmöglichkeit eines Verhandlungsfriedens. Hierfür auch relevante Faktoren, wie geostrategische Interessen Russland und der Kontext aktueller globaler geopolitischer Dynamiken werden weitgehend ausgeblendet.

5. Seine Klage darüber, wie schwer es westlichen Politikern fiel, „die wahre Natur“ Russlands zu erkennen lässt zweifeln, ob wir solch ahistorischen apodiktischen Diagnostikern einer „wahren Natur“ von Völkern unser Verstehen Russlands und unsere Friedenpolitik anvertrauen dürfen.

Wladimir Putin während einer Rede
Wladimir Putin während einer RedeMaxim Shipenkov/AFP

6. Er neigt wie viele Falken dazu, militärische Aggression gleichzusetzen mit einem rundum bösen Charakter des Aggressors. Mag auch Putins Typus bei manchen westlichen Zeitgenossinnen zu solch einer Gleichsetzung provozieren, so ist diese doch weder kriminologisch, noch psychologisch und schon gar nicht politologisch haltbar. Für Friedensbemühungen ist solch eine Dämonisierung toxisch.

Der Versuch, Putins Russland mit Hitler-Deutschland gleichzusetzen, stützt sich also nicht auf seriöse Belege und ist schlicht unhaltbar. Damit lässt sich keine Ablehnung eines Verhandlungsfriedens mit Putin, keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Politik, konstruieren. Wer Frieden will, muss zwar Aggression eindeutig verurteilen, darf aber daraus kein Kontaktverbot zu den Tätern ableiten. Die Falken-Strategie eines Friedens gegen Russland hat einen sehr hohen menschlichen Preis. Die dafür nötigen guten Gründe hat Kronzeuge Schlögel nicht geliefert.

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Welche Ziele die Kriegsparteien verfolgen

Die friedenspolitische Alternative besteht aber nicht in einer naiven Verharmlosung des Aggressors. Ein gerechter und dauerhafter Friede mit einem Aggressor kann nur erreicht werden, wenn aus einer Position der Stärke heraus verhandelt wird.

Was heißt das konkret für einen Verhandlungsfrieden in der Ukraine? Dabei ist davon auszugehen, dass jede Kriegspartei Maximal- und Minimalziele verfolgt. Russlands Maximalziele – so lassen die Verlautbarungen vermuten – bestehen in der Wiederherstellung einer den Grenzen der einstigen Sowjetunion entsprechenden Einflusssphäre sowie einer Schwächung der demokratischen Staaten Europas. Seine Minimalziele bestehen in der verbindlichen Verhinderung einer weiteren Ausweitung der Nato an seine Grenzen sowie Einverleibung der Krim (zwecks gesichertem Schwarzmeerzugang) und des Donbass (als vorzeigbare „Kriegsbeute“).

Die Maximalziele der Ukraine und der EU bestehen in der Wiederherstellung der Grenzen der Ukraine von vor 2014 verbunden mit einer Schwächung des autoritären Regimes in Russland und der Bündnisfreiheit russischer Anrainerstaaten. Die Minimalziele bestehen darin, der Rest-Ukraine (sowie Moldawien und Georgien) eine militärisch abgesicherte Souveränität zu erhalten und die Sicherheit aller Nato-Staaten (Baltikum!) zu garantieren.

Ukrainische Artillerie im Einsatz an der Front
Ukrainische Artillerie im Einsatz an der FrontSmoliyenko Dmytro/imago

Es muss differenziert werden

Es ist unschwer zu erkennen, dass nicht nur die Maximalziele beider Seiten, sondern auch die Maximalziele der einen und die Minimalziele der anderen Seite miteinander unvereinbar sind. Inwieweit beide Seiten mit dem Erreichen ihrer Maximalziele liebäugeln, hängt von der relativen militärischen Stärke beider Seiten ab. Es ist aber auch unschwer zu erkennen, dass die Minimalziele beider Seiten miteinander vereinbar sind; worauf man sich ja im April 2022 schon fast geeinigt hatte.

Voraussetzung für eine solche Einigung ist also eine militärische Stärkung Europas und der Ukraine derart, dass in Russland niemand mehr von den Maximalzielen träumen kann und dass ein Abkommen militärisch dauerhaft abgesichert wird. Ebenso erforderlich ist, dass die Ukraine und der Westen eindeutig von ihren Maximalzielen Abstand nehmen. Genau das aber tun die Falken bei uns nicht, die davon träumen, Frieden erst zu schließen, wenn Putin im Gefängnis sitzt. Es fehlt ihnen die friedensschaffende Einsicht, zwischen gebotener Abwehrbereitschaft gegen Aggressoren und einem friedensfeindlichen Streben nach militärischer Bezwingung des Aggressors zu differenzieren.

Theo Rauch hat sich als Professor für Wirtschaftsgeographie (nun im Ruhestand) und in seinen entwicklungspolitischen Arbeiten auch mit Fragen der Friedensforschung befasst. Er hat 1965-67 beim Bund das Kriegshandwerk erlernt, um Teil einer glaubwürdigen Abschreckungskulisse zu sein und hat das bis heute nicht bereut.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit
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