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Alle westlichen Demokratien haben in den letzten Jahren eine Zunahme populistischer Strömungen erlebt, die das Links-Rechts-Schema subversiv unterspülen. Erstarkender Populismus löst eine politische Rotationswirkung aus: Die primäre Frontstellung kippt aus der Horizontalen – „links“ versus „rechts“ – in die Vertikale: Jetzt geht es um „unten“ versus „oben“.
Populismus heißt, mit rabiater Rhetorik die subjektive Unzufriedenheit über wahrgenommene (tatsächliche oder eingebildete) Missstände den Mächtigen zur Last zu legen. Das Establishment wird auf die Anklagebank gezerrt und schuldig gesprochen, korrupt zu sein und versagt zu haben. Typisch ist der an die Elite(n) gerichtete Vorwurf, die Interessen des Volkes zu verraten und generell unwillig oder unfähig zu sein, diese Interessen verstehen und repräsentieren zu können. Populismus ist an Personen adressierte Elitenbeschimpfung – und mithin ein demokratisches Allerweltsphänomen. Das hat es immer schon gegeben.

Populisten werden deligitimiert
Neu hingegen ist, wie die beschimpften Eliten zu einer Gegen-Beschimpfung übergegangen sind. Mittlerweile wird mit gleicher Münze heimgezahlt, also mit rabiater Rhetorik und rigorosem Anti-Populismus. Kritiker werden abgestempelt und delegitimiert: als Querulanten, Wutbürger, Mob, Pack. Da es aber in westlichen Gesellschaften als unschicklich gilt, von „oben“ herab die Populisten da „unten“ quasi als gesellschaftlichen „Bodensatz“ zu kritisieren, werden sie als Faschisten oder Nazis angesprochen, also rechtsextrem verortet – und ausgegrenzt.
Dieser Kunstgriff lässt sich in vielen Demokratien beobachten, nicht nur in Deutschland, hier aber besonders: Populisten wird unterstellt, ihr Populismus sei getrieben von Rassismus, Fremdenhass und Demokratiefeindlichkeit. So erscheinen die Kritiker mitsamt ihrer Kritik als letztlich indiskutabel. Anstatt sich mit ihren Argumenten inhaltlich auseinanderzusetzen, werden sie tabuisiert, nach dem Motto: Dieser Pöbel ist kein ernstzunehmendes Volk. Deshalb darf man seinen Parolen keine Plattform geben. Stattdessen setzt man auf forcierte Exklusion: auf einschüchternde Stigmatisierung, verengte Meinungskorridore und sprachpolizeiliche Repression, auf Kontaktvermeidung und angedrohte Parteiverbote sowie auf eine Mobilisierung zivilgesellschaftlicher und medialer Milieus subventionierten Gegenprotests.
Dieses Aufeinanderprallen eines Populismus von „unten“ und eines Anti-Populismus von „oben“ spaltet die Gesellschaft in zwei Lager, aktiviert ein tribalistisches Freund-Feind-Denken und stellt den demokratischen Prozess radikal um: von Interessenpolitik auf Identitätspolitik. So kommt es zu affektiver Polarisierung und moralisch motivierter Argumentationsverweigerung.
Erst begegnet man sich mit Verachtung, und schließlich verachtet man sich so sehr, dass man Begegnungen lieber gleich ganz aus dem Weg geht. Man redet nicht mehr miteinander, sondern allenfalls noch übereinander – und konsequent aneinander vorbei. Man hört den anderen nicht mehr zu, nimmt sie nicht ernst, aber regt sich darüber auf, wie die darauf reagieren. Inhaltliche Auseinandersetzungen finden kaum noch statt.
Dass all dies die Demokratie gefährdet, steht außer Zweifel. Aber wo genau liegt die Ursache? Populisten identifizieren Eliten und diese wiederum identifizieren Populisten als Quelle der Gefahr. Dabei ist es die toxische Symbiose von Populismus und Anti-Populismus – die von beiden Seiten befeuerte Eskalationsspirale einer Trivialisierung, Tribalisierung und Tribunalisierung der politischen Auseinandersetzung –, die die auf freie Interessenartikulation und friedlichen Interessenausgleich ausgerichteten Politikprozesse operativ zunehmend außer Kraft setzt. Der Adrenalinpegel steigt. Das Argumentationsniveau sinkt. Diskurse werden blockiert. Orientierung kommt abhanden. Problem- und Konfliktlösung findet kaum noch statt. So gerät Demokratie in Gefahr.

Wo bleibt die Deeskalation?
Demokratie beruht auf antagonistischer Kooperation, auf einem konstruktiven Zusammenspiel von Regierung und Opposition. Aber wie soll das noch funktionieren, wenn die einen sich in die Vorstellung hineinsteigern, die Regierung müsse weg, koste es, was es wolle; und wenn spiegelbildlich die anderen sich in die Vorstellung hineinsteigern, die Opposition müsse um jeden Preis daran gehindert werden, jemals die Regierung zu stellen?
So betrachtet ist es besorgniserregend, mit welch purer Unvernunft – symmetrisch, auf beiden Seiten! – die Zahl derer zunimmt, die sich in einen Ausnahmezustand hineinimaginieren und in die Selbstermächtigungsdevise, um das Schlimmste zu verhüten, sei ihnen alles erlaubt. Zur Erinnerung: Das demokratische Postulat bürgerlicher Vernunft ist, einen Ausnahmezustand vermeiden zu helfen.
Deeskalation erfordert die Bürgertugend kritischer Selbstreflexion: Es ist nicht hilfreich zu fragen, wer die Demokratie gefährdet. Das treibt uns nur immer weiter in die identitätspolitische Sackgasse moralisierender Anklagen und Schuldzuweisungen.
Stattdessen müssen wir fragen, was die Demokratie gefährdet. Mit diesem Perspektivwechsel geraten prozedurale Defizite ins Blickfeld. Und genau das weist uns den Weg aus der Sackgasse heraus. Es sind bestimmte Formen eines mittlerweile allgemein verbreiteten Fehlverhaltens, die uns daran hindern, die politische Auseinandersetzung so zu führen, dass die enormen Strukturprobleme, die wir seit der globalen Finanzkrise aufgehäuft haben, mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden können.
Die vor uns liegenden Herausforderungen sind gewaltig, und der Problemdruck wächst. Den Luxus, das einfach auszusitzen und die Schmerzsymptome mit staatsschuldfinanzierten Geldspritzen zu betäuben, werden wir uns nicht dauerhaft leisten können. Das bedeutet: Wir müssen, als Demokraten, die Problemlösungsfähigkeit unseres politischen Systems deutlich erhöhen. Das geht nur, indem wir so explizit wie nur möglich von den politischen Akteuren verlangen, aufeinander zuzugehen und zu der demokratischen Tradition zurückzukehren, öffentlich um das bessere Argument zu bringen.

Dazu kann jede einzelne Person ihren Beitrag leisten, indem sie elementare Anstandsregeln einhält und deren Verletzung durch andere offen und respektvoll anspricht. Als Demokraten sollten wir uns die von Populisten wie Anti-Populisten betriebene Dämonisierung von Personen und das damit verbundene Hintertreiben inhaltlich fundierter Sachdiskussionen nicht länger gefallen lassen. Wir haben Besseres verdient als Politiktheater, das auf Politikvermeidung hinausläuft. Die Devise demokratischer Revitalisierung lautet: Politik-Stimulierung statt Politik-Simulation.
Diskursversagen ist die Achillesferse der Demokratie. Deshalb müssen wir hier ansetzen und die teils dysfunktional gewordene Öffentlichkeit als wertvolles Kollektivgut („epistemic commons“) wieder instand setzen.
Wir brauchen Verständnis, Zivilcourage und besseren Dialog
Verständigung braucht Verständnis. Darum sollten wir Formen von Bevormundungsjournalismus couragiert abwählen und als Medienkonsumenten überall dort abwandern, wo nicht berichtet und beschrieben, sondern vorgeschrieben wird. Kunden können kündigen.
Wo man nicht kündigen kann, ist Widerspruch erlaubt. Zivilcourage heißt, Fehlverhalten nicht schweigend hinzunehmen, sondern Akteure auf Regelverstöße hinzuweisen. Höflich und sachlich formuliert, können Leserbriefe, Petitionen, Beschwerden und (Er-)Mahnungen wohltuende Wirkungen entfalten. Wir selbst haben es in der Hand, Mut zur Mündigkeit aufzubringen, indem wir unsere demokratische Feedback-Kultur verbessern.
Unsere mediale Öffentlichkeit benötigt neue Diskussionsformate. Talkshows beispielsweise dienen oft mehr dem Schlagabtausch als dem Gedankenaustausch. Da zählen Treffer mehr als Argumente. Warum ändern wir das nicht, etwa indem wir von Kontrahenten einfordern, die Gegenposition korrekt darzustellen? Und dann deren Vertreter fragen, ob ihre besten Argumente richtig wiedergegeben wurden? Dies würde die Diskussion zivilisieren, ihr Niveau heben und der Degenerationsdynamik von „entertainment“ über „infotainment“ zu „angertainment“ entgegenwirken. Zudem würde es die demokratische Einsicht bestärken, dass es in einer politischen Debatte auf allen Seiten immer auch gute Absichten, berechtigte Anliegen und valide Argumente gibt.

Eine Demokratie braucht offenen Meinungsaustausch
Es gilt, prozedural dafür zu sorgen, dass unsere Demokratie wieder in Gang kommt, indem wir verhindern, dass (Anti-)Populisten sich gegenseitig blockieren und Politikprozesse lahmlegen. Wir müssen uns bewusst sein, dass es in einer Demokratie nicht darum geht, Gegner zu bekämpfen oder gar Feinde zu besiegen. Sondern darum, einen offenen Meinungsaustausch und friedlichen Interessenausgleich zu organisieren, der das kollektive Zusammenleben für ausnahmslos alle Beteiligten einigermaßen erträglich macht. Überzeugte Demokraten wissen, dass die akzentuierte Betonung beim Wort „Streitkultur“ nicht auf die erste, sondern auf die beiden letzten Silben zu legen ist.
Wo dies in Vergessenheit gerät, führen ausgerechnet jene einen Angriff auf die Integrität bestens bewährter Institutionen, die sich selbst im Verteidigungsmodus wähnen, gerade weil sie sich als Freunde der Demokratie verstehen – die von „unten“ im Namen des „Volkes“, die von „oben“ unter dem Banner (und Bannspruch) eines „Nie wieder ist jetzt“. Deshalb wird es dringend Zeit, sie zur Besinnung zu bringen. Bevor es zu spät ist. Denn wenn Probleme nicht friedlich gelöst werden, kommt unweigerlich Gewalt(-bereitschaft) ins Spiel. Dann hat man es wirklich mit Extremismus zu tun.
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