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Umgekehrter Kulturschock: Wie anders ich Berlin nach einer Reise durch Japan sehe

Die Müllberge in Neukölln gehören für unsere Autorin zum Alltag – bis sie in Tokio sieht, dass es auch anders geht. Sie findet: Ein wenig mehr Rücksicht täte Berlin gut.

Der Sensō-ji-Tempel in Tokio
Der Sensō-ji-Tempel in TokioBenjamin Wong/unsplash

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Ich weiß nicht, wann es mir auf meiner Japanreise zum ersten Mal auffiel: In jedem U-Bahn-Wagen gab es eine Bank, die immer frei blieb, egal wie voll die Bahn war. Und voll heißt in Japan, so dicht nebeneinanderzustehen, dass man von allen Seiten regelrecht eingeschlossen ist. Über den freien U-Bahn-Sitzen hingen Piktogramme. Eines zeigt eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Schoß, ein anderes eine Schwangere, eine Person mit einer Krücke und einen Menschen, in dessen Innerem ein Herz zu sehen ist. Das steht für Menschen mit inneren Krankheiten. Im Grunde hätte sich also jeder auf diese Plätze setzen können. Innere Krankheiten sind unsichtbar.

Ich komme aus Berlin und überlegte, was in einer Berliner U-Bahn oder einem Bus mit diesen Plätzen passiert. Die Piktogramme werden ignoriert, die Plätze sind immer besetzt, selbst dann, wenn jemand kommt, für den sie eigentlich da sind. Manchmal werden sie dann frei gemacht, aber ich habe auch schon erlebt, dass eine alte Frau, die nicht gut laufen konnte, darum bitten musste, sich setzen zu dürfen.

U-Bahn in Tokio
U-Bahn in TokioAjay Murthy/unsplash

In mir kehrte eine Ruhe ein, die ich aus Berlin nicht kenne

Ich weiß auch nicht, wann ich in Japan zum ersten Mal einen Verkehrspolizisten sah, der sich vor den wartenden Autos verbeugte, nachdem er sie angehalten hatte. Ich ging in Tokio die Treppen zur U-Bahn hinunter und sah auf dem Bahnsteig Menschen in zwei geraden Reihen vor den Markierungen für die U-Bahn-Türen stehen und warten. Ruhig, ohne zu drängeln. Niemand versuchte, sich vorzuschieben, obwohl es oft eng und hektisch war. Zwischen all diesen Gesten des Respekts und der Rücksicht kehrte in mir eine Ruhe ein, die ich aus Berlin nicht kenne.

Ein besonders eindrucksvoller Moment: Vor einem Schrein, der im Wasser stand, warteten viele Menschen geduldig, um ein Foto zu machen. Es schneite, viele zitterten, die Smartphones im Anschlag, alle fixiert auf das perfekte Instagram-Bild. Da kam ein älterer Mann. Ohne zu zögern ging er nach vorne. Nicht, weil er sich vordrängen, sondern weil er beten wollte. Alter und Religion genießen in Japan Respekt – und so ließ man ihn gewähren. Niemand beschwerte sich, obwohl manch einer sicher schon lange in der Kälte gewartet hatte.

Der Kontrast traf mich nach der Landung in Deutschland umso härter. In Frankfurt stieg ich in den Zug nach Berlin. Auf meinem reservierten Platz saß eine Gruppe von Fußballfans, schon morgens um acht in Feierlaune. Als ich sie darauf hinwies, dass sie auf meinem Platz sitzen, bekam ich eine Alkoholfahne ins Gesicht und den Satz: „Hab dich doch nicht so, Schätzchen.“

Mir war zum Heulen zumute. Mürrisch räumte man mir zwar den Platz, doch den Rest der Fahrt bestimmten lautes Grölen, das Klacken der Bierdosen und Gesänge. Ich schaute aus dem Fenster und wünschte mich zurück in die Tokioter U-Bahn, wo man schon schief angeschaut wird, wenn man nur telefoniert.

Straßenszene in Tokio
Straßenszene in TokioTetiana Shevereva/unsplash

Am Berliner Hauptbahnhof stand ich im Dreck

In der U-Bahn in Berlin telefonieren die Leute auf Lautsprecher und gucken auf voller Lautstärke TikTok-Videos ohne Kopfhörer. Manchmal würde ich ihnen am liebsten ihr Smartphone aus der Hand reißen und es aus der Bahn werfen. Stattdessen sage ich nichts.

Ich trat aus dem Berliner Hauptbahnhof und stand im Dreck. Zigarettenkippen lagen auf dem Vorplatz, eingetretene Kaugummis, eine halb aufgegessene Packung Chips. In meiner Berliner Nachbarschaft in Nord-Neukölln stellen die Leute ihre alten Sofas und Kühlschränke auf die Straße. Das wirkt wie eine Einladung, die Klamotten, die man nicht mehr brauchen kann, dazuzuwerfen, auch Bücher, Geschirr, Schuhe. Bald entstehen richtige Müllskulpturen, dann regnet es und alles ist durchweicht. Alle paar Wochen fährt ein Müllauto vorbei und sammelt die Sachen ein.

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Ich bin eigentlich an all das gewöhnt, aber nach vielen Wochen in Japan sah ich meine Stadt mit anderen Augen. Was ich erlebe, fühlt sich an wie ein umgekehrter Kulturschock. Ich kann mich nicht erinnern, in Tokio so etwas gesehen zu haben. Die Straßen dort sind im Vergleich makellos sauber.

Dabei gibt es in Japan nicht mal Mülleimer. Nach einem Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 wurden in Japan alle öffentlichen Mülleimer abgeschafft, weil man fürchtet, dort könnte Gift deponiert werden. Die Japaner nehmen für ihren Abfall kleine Beutel mit, die sie zu Hause entsorgen. Man isst oder trinkt nicht auf der Straße.

In Berlin aber gibt es Wegbier, und die halben Hähnchen von City Chicken bei mir um die Ecke werden halb gegessen auf Stromkästen in den umliegenden Straßen liegen gelassen. Oder sie fliegen auf eine Baumscheibe. Ich frage mich, wie ein Japaner auf meine Nachbarschaft gucken würde. Berlin und Tokio – das sind entgegengesetzte Pole, wenigstens, was Sauberkeit und gegenseitigen Respekt angeht.

Die U-Bahn in Berlin fühlte sich für die Autorin im Vergleich sehr anders an.
Die U-Bahn in Berlin fühlte sich für die Autorin im Vergleich sehr anders an.Richard Bell/unsplash

In Berlin gelte ich damit wohl als Spießerin

Sicher herrscht in Japan ein hoher sozialer Druck, soziale Kontrolle. Davon habe ich als Touristin kaum etwas mitbekommen. Nur als ich einmal auf der Straße im Gehen einen Smoothie trank, merkte ich, wie mich die Passanten missbilligend anguckten, auch wenn keiner etwas sagte. Als wir mit unserem Gepäck in der Bahn von Tokio nach Hakone fuhren, gab es auch Blicke. In Japan hat niemand sein Gepäck bei sich, es wird vorgeschickt, damit man in der Bahn mit seinem Koffer niemandem den Platz wegnimmt.

Ich bin 22 Jahre alt und finde eigentlich, dass jeder machen kann, was er will. Nach dieser Reise ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass auch meiner Stadt ein bisschen mehr soziale Kontrolle guttäte. Mehr Druck in der Stadt der Freiheit. Einfach, damit Berlin nicht so versifft aussieht und die Leute rücksichtsvoller miteinander umgehen. In Berlin gelte ich damit wohl als Spießerin.

Alice Lenz ist 22 Jahre alt und wurde in Berlin geboren. Sie studiert Lehramt im fünften Semester und hat in diesem Jahr mehrere Wochen lang Japan bereist.

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