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Streit ums Gendern: Wie falsche Erzählungen die Karriere des Genderns beförderten

Macht die deutsche Sprache Frauen unsichtbar? Unser Autor denkt: Das stimmt nicht. Das Gendern ist nicht durch Fakten, sondern Erzählungen populär geworden.

Was passiert beim Gendern in der Sprache mit uns? 
Was passiert beim Gendern in der Sprache mit uns? imago/MASKOT

99 Sängerinnen stehen auf einer großen Bühne. Nur noch wenige Minuten bis zum Konzertbeginn. Plötzlich tritt vom rechten Bühnenrand ein Mann hinzu und reiht sich in die Gruppe der Musikerinnen ein. Urplötzlich werden alle Musikerinnen unsichtbar. Nur der Mann steht noch auf der Bühne.

Ich möchte im Folgenden einmal der Frage nachgehen, wie stark Erzählungen wie die von den 99 Sängerinnen zum Erfolg der sogenannten geschlechtergerechten Sprache beigetragen haben. Die zitierte Story stammt aus der Feder von Luise F. Pusch, einer der Mütter der feministischen Sprachkritik. Pusch meinte freilich nicht das reale Entschwinden von 99 Sängerinnen, sondern ihre sprachliche Auslöschung.

Die Linguistin machte in den 1980er-Jahren darauf aufmerksam, dass aus „99 Sängerinnen“ durch das Hinzukommen eines einzigen Mannes sprachlich „100 Sänger“ werden. Das generische Maskulinum mache die Frauen „unsichtbar“, kritisierte sie und forderte seine Beseitigung. Puschs Gedanken entfalteten eine immense Wirkkraft, der Leumund des generischen Maskulinums war seither empfindlich angekratzt, in den Kreisen feministischer Sprachaktivistinnen begann frau nach sprachlichen Alternativen zu suchen.

In der Geschichte des abwegig zusammengesetzten Chors fällt allerdings ein entscheidender Punkt unter den Teppich. Zwar macht das generische Maskulinum Frauen in der Tat sprachlich „unsichtbar“, Männer jedoch ebenso. Das inklusive Maskulinum blendet jeden Geschlechtsbezug aus. Der seit Jahrhunderten tief im Deutschen verwurzelte Sprachgebrauch lässt den Aspekt des Geschlechtlichen überall dort in den Hintergrund treten, wo er keine Rolle spielt: Das „Bürgergeld“ steht allen Bürgern ungeachtet ihres Geschlechts zu, das „Einwohnermeldeamt“ ist auch für Frauen zugänglich, „Wählerstimmen“ berücksichtigen auch das Votum der weiblichen „Wählerschaft“.

Gewiss, das Genus Maskulinum ist schillernd: Es kann sowohl männliche Personen bezeichnen als auch Personen beliebigen Geschlechts. Diese seitens der Genderlinguistik monierte Mehrdeutigkeit wird jedoch in der Regel durch den Kontext problemlos aufgehoben. Der inhaltliche Zusammenhang zeigt uns, ob ein Maskulinum spezifisch („Der Lehrer Andreas Schmidt“) oder generisch („Alle Lehrer an unserer Schule“) zu lesen ist. Man darf die geschilderte Mehrdeutigkeit des Maskulinums durchaus als problematisch empfinden, man darf aber auch darauf vertrauen, dass alle Mitglieder unserer Sprachgemeinschaft wissen, wann es was meint.

Gendern in der Sprache ist für manche Menschen eine Selbstverständlichkeit. Aber vielleicht gar nicht notwendig.
Gendern in der Sprache ist für manche Menschen eine Selbstverständlichkeit. Aber vielleicht gar nicht notwendig.imago/Olga Romanova

Erfolg des Genderns: „Der Mensch liebt Geschichten“

Wenn man eine Antwort auf die Frage sucht, warum Gendersprache seit den 80er-Jahren eine so erstaunliche Karriere hinlegen konnte, dann muss man einen Blick auf die Erzählungen werfen, die ihre Verbreitung vorangetrieben haben. Natürlich waren es vor allem fleißige Multiplikatoren in Amtsstuben und Universitäten, allen voran die zahlreichen Gleichstellungsbeauftragten und Inhaberinnen von Lehrstühlen für Gender Studies, die die Karriere des Genderns aktiv beförderten – ohne packende Geschichten und eindringliche Bilder hätte der elitäre Jargon jedoch nie seine akademische Nische verlassen.

Der Mensch liebt Geschichten, sein Geist ist überaus empfänglich für die narrative Aufbereitung von Realität. Dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari gilt Geschichtenerzählen als das Alleinstellungsmerkmal der Spezies Mensch, das unseren Machtvorsprung vor allen anderen Lebewesen begründet. Die Erfolgsgeschichte des Genderns ist nicht zuletzt der Erfolg seiner Grunderzählung. 

Danach durchdringen patriarchale Strukturen nicht nur seit Jahrhunderten die Gesellschaft, sie setzen sich auch in der Sprache fest und prägen von dort aus Denken und Handeln der Sprachgemeinschaft. Die feministische Sprachkritik sieht im generischen Maskulinum das sprachlich geronnene Abbild männlicher Dominanz. Der Mann gelte in unserer Kultur als Norm, und darum dominiere das Maskuline auch in der Sprache.

Die Überzeugungskraft dieser Theorie beruht nicht auf einem tragfähigen sprachwissenschaftlichen Fundament, sondern in erster Linie auf der Bildhaftigkeit ihres zentralen Opfernarrativs. Geschichten nehmen uns mit, wenn sie unsere Emotionen berühren. Und genau das geschieht in der Erzählung vom Opfer Frau, das vom Täter Mann in die Unsichtbarkeit gedrängt wird.

Wer die sprachliche Deklassierung der Frau ablehne, müsse den etablierten Sprachgebrauch hinter sich lassen und gendern. Wer sich dem verweigert, riskiert die Verbreitung wenig schmeichelhafter Erzählungen, etwa die vom alten Mann, der sich angesichts der allgemeinen Sprach- und Geschlechtervielfalt verzweifelt an sein generisches Maskulinum klammert. Ein Narrativ, das ebenso wirklichkeitsfern ist wie das von der jungen Generation, für die Gendern angeblich heute eine Selbstverständlichkeit sei.

Wie effektiv Storytelling für das Verbreiten von Botschaften aller Art ist, haben Marketingprofis schon lange erkannt. „Facts tell, stories sell“ lautet der Titel eines der zahlreichen Fachbücher zum Thema. Fakten sind nett, wer aber verkaufen will, muss Geschichten erzählen. Story beats facts. Für den Bereich der politischen Kommunikation gilt die gleiche Regel. Wer überzeugen will, muss gute Geschichten erzählen. In nüchterner Klarheit bringt es Wikipedia auf den Punkt: „Bestimmendes Element hinter einem Narrativ ist weniger der Wahrheitsgehalt, sondern ein gemeinsam geteiltes Bild mit starker Strahlkraft.“

Mit solchen Bildern arbeitet auch die scharfzüngige Luise Pusch, wenn sie sagt: „Der wahre Feind ist das ‚generische Maskulinum‘, das Frauen besser unsichtbar macht als jede Burka.“ Ein eindringliches Bild für das diskriminierende Potenzial einer „Männersprache“, mit dem sie anknüpft an ihre Geschichte von den 99 Sängerinnen, die von einem einzigen Sänger sprachlich zum Verschwinden gebracht werden.

Die These der angeblichen Unsichtbarkeit der Frau

Die Erfolgsgeschichte des Genderns beruht auf einer ganzen Reihe solcher Erzählungen, die die These von der angeblichen Unsichtbarkeit der Frau untermauern sollen. Vielleicht sind Sie schon einmal über diese gestolpert: „Ein Vater fährt mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglücken. Der Vater stirbt an der Unfallstelle. Der Sohn wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und muss operiert werden. Ein Arzt eilt in den OP, tritt an den Operationstisch heran, auf dem der Junge liegt, wird kreidebleich und sagt: ‚Ich bin nicht im Stande zu operieren. Dies ist mein Sohn.‘“ Diese Fassung habe ich dem Genderleitfaden der Universität des Saarlandes entnommen, er findet sich nahezu identisch in vielen Leitfäden deutscher Universitäten.

Der Text irritiert massiv. Wie kann ein soeben verstorbener Vater in die Verlegenheit kommen, seinen Sohn operieren zu müssen? Die Geschichte soll die angebliche Missverständlichkeit des generischen Maskulinums beweisen. Der Taschenspielertrick dieser Story besteht darin, ein Maskulinum in einem Kontext zu verwenden, der eindeutig ein Femininum erfordert. Hier müsste also von einer Ärztin die Rede sein. Redet man über konkrete Personen, wird im Deutschen das Geschlecht sprachlich ausgewiesen, das Maskulinum ist daher in einer Geschichte wie der oben zitierten völlig deplatziert; kein Mensch könnte und würde es an der Stelle generisch interpretieren. Diese Arztgeschichte ist völlig ungeeignet, das generische Maskulinum zu kritisieren, dennoch führt sie viele Menschen erfolgreich hinters Licht.

Die Story vom toten Arzt hat etliche Jahre auf dem Buckel und stammt ursprünglich aus den USA. Dort diente sie einem anderen Zweck: Sie sollte helfen, Rollenstereotype zu entlarven. Wenn also Englischsprecher bei „surgeon“ an einen Mann dachten, dann lag das nicht am generischen Maskulinum (das es im genuslosen Englischen nicht gibt). Es lag an Geschlechterklischees.  Wer diese Geschichte benutzt, um das generische Maskulinum zu stigmatisieren, betrügt sein Publikum. Dass deutsche Universitäten diesen Unfug mitmachen, ist beschämend.

Erfolgreich war ebenso die Geschichte vom Deutschen als „Männersprache“ (Pusch). Hinter diesem Konzept steckt die Idee einer Sprachentwicklung, die über Jahrtausende ausschließlich von Männern geprägt wurde. Der Schriftsteller Daniel Scholten kommentiert dieses Geschichtsbild bissig: „Obwohl die Frau seit so langer Zeit sprechen kann wie der Mann und seit jeher die Hälfte jeder Population ausmacht, hat sie jahrtausendelang nichts gesagt und ist erst durch die moderne Frauenbewegung zu Bewusstsein und Sprache gekommen (…). Wenn sie doch gesprochen hat, durfte sie die Sprache höchstens mitbenutzen und musste so sprechen, wie es ihr der Mann vorgab. An der Entstehung und Entwicklung des Deutschen hatte sie keinen Anteil.“

Zu diesem Zerrbild einer ausschließlich von Männern geprägten Sprache – paradoxerweise „Muttersprache“ genannt – gesellt sich die Vorstellung, dass Sprachkonventionen wie das generische Maskulinum Instrumente gezielter Unterdrückung darstellen.  Für die Sinologin und Journalistin Dagmar Lorenz beruhen solche Thesen auf der „von feministischer Seite suggerierten Verschwörungstheorie, wonach ein fiktives Kollektivum, genannt ‚die Männer‘, von alters her vorsätzlich darum bemüht sei, den weiblichen Teil der Gesellschaft durch entsprechende Sprachregelungen zu unterdrücken.“

Wer ist Opfer, wer Täter? Gendersprache ist komplex. 
Wer ist Opfer, wer Täter? Gendersprache ist komplex. imago/Natalia Danko

„Fakten haben es schwer, gegen eine gute Geschichte anzutreten“

Von Täter-Opfer-Erzählungen dieser Art lässt sich der Bogen schlagen zur scharfen Kontrastierung von Gut und Böse, die typisch ist für Märchen, aber auch für religiöse Narrative. Viele zentrale Elemente im Themenkomplex Gendersprache erinnern an die Sphäre des Religiösen: eine zentrale Erzählung (Mythos von der unsichtbaren Frau), die Identifikation des Bösen (das generische Maskulinum und seine Nutzer/der Patriarch), eine gemeinsame Praxis als Distinktionsmerkmal (Nutzung gendersensibler Sprache), die scharfe Gegenüberstellung von In-Group (progressive Befürworter) und Out-Group (konservative Kritiker), das Inszenieren der eigenen Wahrheit als absolut und unhinterfragbar, das Belegen von Kritik mit einem Tabu.

In diesen religiösen Narrativen mögen auch die Wurzeln liegen für den hohen moralischen Ton, der in Diskussionen von Genderbefürwortern oft angeschlagen wird und eine sachliche Debatte meist vereitelt. Es ist eine manichäische Weltsicht, die hier zum Tragen kommt: gut/böse, jung/alt, links/rechts sind die Koordinaten dieses unterkomplexen Lagerdenkens.

Wie in diesem Artikel dargestellt, hat die Gendersprache ihre Karriere in starkem Maße einer Bündelung verschiedener hochwirksamer Erzählungen zu verdanken. Fakten haben es dagegen schwer, gegen eine gute Geschichte anzutreten. So ließen ZDF und ARD im Sommer dieses Jahres einen Aufruf von über 300 Sprachexperten, die die Sender zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Genderpraxis aufforderten, entspannt an sich abperlen.

Die Wissenschaftler hatten zwar etliche Argumente aufgeführt, die strahlende Story der ebenso fortschrittlichen wie diversitätssensiblen Sender, die ihre „Zuschauenden“ diskriminierungsfrei und wertschätzend ansprechen und in ihrer Sprache alle Geschlechter sichtbar machen möchten, lässt ihnen eine Auseinandersetzung mit Argumenten hinfällig erscheinen. Vielleicht hätte man den Unterzeichnern des Aufrufs raten sollen, sich mit ihren Thesen an der Eingangstür des ZDF festzukleben. Das wäre zumindest eine gute Story gewesen.

Fabian Payr ist Komponist und Autor des Buches „Von Menschen und Mensch*innen. 20 gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören“.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.