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Neue Studie: Staatliche Maßnahmen haben Corona-Belastung „wenig bis gar nicht verändert“

Im Anschluss an neue und alte Studien stellt sich immer drängender die Frage: Warum wurden extreme Maßnahmen wie Lockdowns überhaupt eingeführt und durchgesetzt?

Eine Stanford-Studie hat untersucht, „inwieweit sich die Covid-19-Ergebnisse in Bezug zu den Maßnahmen der Regierung verbessert oder verschlechtert haben“.
Eine Stanford-Studie hat untersucht, „inwieweit sich die Covid-19-Ergebnisse in Bezug zu den Maßnahmen der Regierung verbessert oder verschlechtert haben“.Michael Weber/imago

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Die Kämpfe um Deutungshoheit in Sachen Corona-Aufarbeitung gehen weiter. Jüngst behauptete der Virologe Christian Drosten in einem Interview mit n-tv: „Wir haben jetzt einen Prozess zum Auswertungsjahr 2021 abgeschlossen, also eigentlich die Zeit der Lockdowns, der nicht pharmazeutischen Intervention. Und da kann man beispielsweise sagen, dass die Kontaktmaßnahmen allgemein, also Ausgangssperre, Gruppengrößen, Beschränkungen und diese Dinge, einen starken und eindeutigen Effekt auf Krankheitslast, Infektionszahlen, Todeszahlen hatten.“ Auf welche Studien sich Drosten bezieht, wird nicht klar. Die Charité verweist auf Nachfrage lediglich auf eine allgemeine Publikationsliste von Drosten.

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Im Juni dieses Jahres erschien jedoch eine Studie, die im Vergleich mit Drostens Behauptungen zu einem nahezu gegenteiligen Ergebnis kommt. Die Autoren der Studie sind Eran Bendavid und Chirag J. Patel, Medizinprofessoren an der renommierten Elite-Universität Stanford.

Die Studie untersucht mithilfe von Daten der Jahre 2020 und 2021 aus 181 Ländern, ob und inwiefern die von den Regierungen verhängten Eindämmungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Schulschließungen, Schließungen von Geschäften, Reisebeschränkungen, Ausgangssperren, Versammlungsverbote und Maskenpflichten, wirksam waren. Gibt es zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der Strenge der Maßnahmen und der Anzahl der Covid-Todesfälle?

Ziel der Studie ist es „zu untersuchen, inwieweit sich die Covid-19-Ergebnisse in Bezug zu den Maßnahmen der Regierung verbessert oder verschlechtert haben“. Zu diesen ausgewerteten „Covid-19-Ergebnissen“ gehören: positiv getestete Fälle, Infektionen, Covid-19-Todesfälle und Übersterblichkeit.

Die Ergebnisse der Wissenschaftler ergeben ein widersprüchliches Bild. Teilweise kommen die Auswertungen zu dem Ergebnis, dass die Maßnahmen hilfreich waren, teilweise, dass sie nicht hilfreich waren.

Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Epidemie in Berlin. Polizisten weisen Passanten am Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain auf die Ausgangsbeschränkungen und das Kontaktverbot hin.
Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Epidemie in Berlin. Polizisten weisen Passanten am Boxhagener Platz in Berlin-Friedrichshain auf die Ausgangsbeschränkungen und das Kontaktverbot hin.Christian Mang/imago

Die Stanford-Professoren resümieren in ihrer Studie unter anderem, sie könnten „nicht zu dem Schluss kommen, dass es zwingende Beweise für die Annahme gibt, dass staatliche Maßnahmen die Covid-19-Belastung verbessert haben, und wir können nicht zu dem Schluss kommen, dass es zwingende Beweise für die Annahme gibt, dass staatliche Maßnahmen die Covid-19-Belastung verschlechtert haben. Die Konzentration der Schätzungen um einen Nulleffekt deutet darauf hin, dass die staatlichen Maßnahmen die Covid-19-Belastung wenig bis gar nicht verändert haben“.

Laut Pandemieplänen: Keine Daten zur Effektivität von Lockdowns

Dass viele der Maßnahmen keinen oder nur einen fraglichen Nutzen haben, ist keine Neuigkeit.

In den nationalen Pandemieplänen (Teil 1 und Teil 2) der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2017 finden sich keine Empfehlungen für so strenge und vor allem verpflichtende Eingriffe in das öffentliche Leben. In Teil zwei heißt es im Abschnitt zu nichtpharmakologischen Maßnahmen:

„Von Behörden wird im Falle von Pandemien oder schwereren Influenzaepidemien häufig erwogen, öffentliche Versammlungen und Massenveranstaltungen abzusagen sowie Schulen und Kindergärten zu schließen. Die diesbezüglich beste Evidenz zur Effektivität stammt aus der Pandemie 1918. ... Modellierende Berechnungen legen zwar einen Effekt der damaligen Bemühungen nahe, allerdings bestehen Zweifel bezüglich der Übertragbarkeit auf die heutige Situation ... Insgesamt besteht ein großer Forschungsbedarf, da zu vielen der hier untersuchten Maßnahmen nur wenige belastbare Daten und verallgemeinerungsfähige Studien vorliegen.“

In einem WHO-Bericht bezüglich Grippepandemien aus dem Jahre 2019 heißt es: „Die Evidenzbasis für die Wirksamkeit von nichtpharmazeutischen Interventionen (NPIs) in gemeindenahen Settings ist begrenzt, und die Qualität der Evidenz war für die meisten Interventionen insgesamt sehr gering.“

2022 erschien eine Analyse, an der der weltweit angesehene Stanford-Epidemiologe John Ioannidis ebenfalls mitwirkte und den Evidenzgrad aggressiver Maßnahmen beleuchtete. Auch hier wurde geschlussfolgert, dass die wissenschaftliche Basis für solche Eingriffe äußerst dünn ist.

Ein Regierungsmitarbeiter misst die Temperatur eines Besuchers am Eingang eines Wohnblocks in Wuhan, Februar 2020.
Ein Regierungsmitarbeiter misst die Temperatur eines Besuchers am Eingang eines Wohnblocks in Wuhan, Februar 2020.Li He/imago

Die Johns-Hopkins-Universität veröffentlichte im Januar 2022 eine Metaanalyse über die Auswirkungen der Lockdowns, also einer Ansammlung nichtpharmazeutischer Maßnahmen auf die Covid-19-Sterblichkeit. Sie kam zu folgendem Ergebnis: „Insgesamt kann unsere Metaanalyse nicht bestätigen, dass Lockdowns einen großen, signifikanten Effekt auf die Sterblichkeitsrate haben.“ Im September 2020 warnte der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im Gegenteil sogar: „An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus“.

Der WHO-Repräsentant Gauden Galea in China erklärte noch am 23. Januar 2020: „Ein Lockdown von 11 Millionen Menschen ist in der Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens beispiellos, daher ist dies sicherlich keine Empfehlung der WHO.“ Der WHO-Generalsekretär twitterte rund eine Woche später: „In vielerlei Hinsicht setzt #China einen neuen Standard für die Reaktion auf Ausbrüche.“

Im März 2020 lobte Drosten die Politik für ihr „beherztes“ Vorgehen als in England Ausgangssperren verhängt wurden, obwohl er selbst im gleichen Interview zugab, dass es keine wissenschaftlichen Daten für den epidemiologischen Nutzen gab.

Wenn gravierende Maßnahmen wie Lockdowns – also Grundrechtseinschränkungen im Sinne einer weitgehenden Lahmlegung des öffentlichen und sozialen Lebens – ursprünglich nicht in den (nationalen) Pandemieplänen vorgesehen waren und ihre Wirksamkeit seit jeher unklar war – warum wurden sie dann überhaupt so plötzlich eingeführt und durchgesetzt?

Man erinnere sich nur an den Häuserblock in Göttingen, der im Juni 2020 mittels Zäunen und von Bundeswehrsoldaten bewacht, komplett abgeriegelt wurde, was sich im Nachhinein übrigens als rechtswidrig herausstellte.

Plötzlicher Umschwung: China als Vorbild?

Möglicherweise ist der Besuch eines Beraters des WHO-Generalsekretärs in China im Februar 2020 ein bedeutsames Puzzleteil. Dieser warb danach fast schon euphorisch für eine „Änderung der Denkweise“ und für die Anwendung freiheitsberaubender und totalitärer Maßnahmen bis hin zu einer Zero-Covid-Strategie. Er war der Meinung, dass „der Rest der Welt sich das Fachwissen Chinas zunutze machen würde“, denn „sie wissen, was sie tun und sind wirklich sehr gut darin.“ Auf die Frage hin, was die Welt von China lernen könne, sagte er: „Das ist ein Atemwegserreger und es ist nicht zu erwarten, dass diese Art von Viren mit diesen traditionellen Methoden kontrolliert werden kann.“ Seine Begeisterung für den chinesischen Ansatz fasst er mit dem Satz zusammen: „Wenn ich Covid-19 hätte, würde ich in China behandelt werden wollen.“

Fast zeitgleich, am 24. Februar, treffen sich Jens Spahn, Heiko Rottmann-Großner, Leiter der Unterabteilung „Gesundheitssicherheit“ des Bundesgesundheitsministeriums (damals noch von Spahn geführt), mit den drei Staatssekretären von Innenminister Horst Seehofer. Im Buch „Innenansichten einer Pandemie“ von Georg Mascolo und Katja Gloger wird der Inhalt dieses Treffens wiedergegeben: „Man müsse die Vorkehrungen dafür treffen, dass es zu Ausgangssperren von unbestimmter Dauer komme. Man müsse auch, wie es später in einem Vermerk über das Gespräch heißen wird, ‚die Wirtschaft lahmlegen sowie die Bevölkerung auffordern, sich Lebensmittelvorräte und Arzneimittelvorräte anzulegen‘. ‚Lockdown‘ wird so etwas bald genannt werden, aber an diesem Rosenmontag wird noch ein anderes Wort verwendet: Es lautet ‚Abschaltung‘.“

Einen Tag später kann man in den freigeklagten Protokollen des Robert-Koch-Instituts (RKI) lesen, wie viel Verunsicherung der plötzliche Sinneswandel in Richtung Lockdown-Politik in der Behörde verursachte und dort die Suche nach Evidenz für ein vorher anscheinend nicht vorstellbares Szenario begann. Zum Thema bevölkerungsbasierte Quarantänemaßnahmen ist zu lesen:

„WHO lobt China, empfiehlt Quarantäne, BMG verunsichert, Minister möchte dies noch vermeiden … dafür muss Evidenz dagegen zusammengetragen und Alternativen präsentiert werden, z. B. Evidenz für Absage von Massenveranstaltungen, keine Evidenz für Quarantäne von Gebieten ... Maßnahmen persönlicher Distanzierung, ohne ganze Ortschaften abzuriegeln, Abwägung, was das eine oder andere bringt/ was dagegenspricht, z. B. freiwillige Quarantäne als Alternative zur Absperrung von Berlin“.

Jens Spahn bei einer Pressekonferenz
Jens Spahn bei einer PressekonferenzFlorian Gaertner/imago

Lückenlose Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss

Ein Meilenstein der Kehrtwende bezüglich nichtpharmazeutischer Intervention war der sogenannte Report 9 des Imperial College in London unter Leitung des Epidemiologen Neil Ferguson. Der Bericht prognostizierte anhand von unterschiedlichen Modellen im März 2020 verschiedene Szenarien, darunter auch solche mit enormen Todeszahlen. Frappierend daran ist, dass die Gruppe ein Modell gar nicht publizierte, und zwar das, welches die Sinnhaftigkeit von Lockdowns anzweifelte. Der Epidemiologiestatistiker John Ioannidis bemerkte dazu: „Das Imperial-Modell, das am besten zu den eigentlichen Beobachtungen passte, zeigte keinen Nutzen von Lockdowns. Dieses Modell haben sie für ihre Studie aber nicht verwendet“.

Es besteht also bei dem Wissen um die massive Schädlichkeit nichtpharmazeutischer Maßnahmen wie Lockdowns die begründete Annahme, dass viele der staatlich auferlegten Corona-Maßnahmen bezüglich ihres vorgegebenen Zieles nicht wirksam waren und im klaren Gegensatz zu etablierten wissenschaftlichen Standards im Umgang mit Atemwegserregern standen. Ein Grund mehr für eine lückenlose Aufarbeitung in Form eines Untersuchungsausschusses.

Bastian Barucker, Jahrgang 1983, ist ausgebildeter Wildnispädagoge und lehrte auch an verschiedenen Hochschulen. Seit vier Jahren arbeitet er aufgrund des Corona-Geschehens als freier Journalist und Publizist.

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