Die Politik der Corona-Jahre berief sich wiederholt auf die Schutzpflicht des Staates, um weitreichende Corona-Maßnahmen durchzusetzen. Die Verantwortung des Staates gegenüber der Gesundheit der Menschen schien das juristische und moralische Gebot der Stunde zu sein.
Allerdings gab es bereits im Frühjahr 2020 viele deutliche Hinweise, dass das nicht nur die Verabschiedung von Coronamaßnahmen umfassen dürfte. Es war absehbar, dass die deutschen Krankenhäuser, Psychiatrien, Therapiezentren, Beratungsstellen und zahlreiche weitere Bereiche des sozialen Sektors gestärkt werden müssten. Eben weil nicht nur Infektionswellen drohten, sondern auch Wellen von Folgeschäden der Coronamaßnahmen.
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The Lancet hatte schon im Februar 2020 eine Meta-Studie über die psychischen Auswirkungen von Quarantänen veröffentlicht: „Die meisten Studien berichteten über negative psychologische Auswirkungen, einschließlich posttraumatischer Stresssymptome, Verwirrung und Wut. (…) Einige Forscher gehen von lang anhaltenden Auswirkungen aus.“
Auch körperliche Gesundheitsschäden waren erwartbar: eine andere Meta-Studie über die Auswirkung von sozialer Isolation und Einsamkeit bei älteren Personen, die ebenfalls im Februar 2020 erschien, stellte fest: Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt um 50 %, bei koronaren Herzerkrankungen oder Schlaganfall um 30 %. Die Gesamtmortalität steigt um 26 %.
Aus wissenschaftlicher Perspektive wusste man also sehr früh, was die Maßnahmen anrichten können.
Die WHO warnte früh vor einer parallelen Pandemie
Auch die WHO veröffentlichte bereits im April 2020 eine eigene Studie, die nach dem im März verhängten Lockdown vor dessen Spätfolgen warnte: „Es ist wahrscheinlich, dass in naher Zukunft die psychosozialen Fachkräfte mit einer ‚parallelen Pandemie‘ von akuten Belastungsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, emotionalen Störungen, Schlafstörungen, depressiven Syndromen und schließlich Selbstmorden konfrontiert sein werden.“
Ende Mai 2020 folgte der erste Bericht über sogenannte „Corona-Suizide“. An der Berliner Charité fanden sich acht Todesfälle innerhalb von drei Monaten, „in denen die Corona-Pandemie als auslösend oder zumindest mitauslösend für die suizidale Tat gewertet werden muss“.
Schwere Depressionen stiegen weltweit zwischen 2019 und 2021 um 28 Prozent und in Deutschland um über 17 Prozent, so das Ergebnis einer Studie in The Lancet im Herbst 2021.

In der Studie heißt es auch: „Diese Pandemie hat die Dringlichkeit erhöht, die psychischen Gesundheitssysteme in den meisten Ländern zu stärken. (...) Keine Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastung durch schwere depressive Störungen und Angststörungen anzugehen, sollte keine Option sein.“
Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, betonte in einem Interview mit der Welt 2022: „Man muss bedenken, dass Depression eine lebensbedrohliche Krankheit ist, die die Lebenserwartung im Schnitt um zehn Jahre verkürzt. Eine Verschlechterung bei zwei Millionen Menschen ist also eine Katastrophe. Eine leise Katastrophe.“
Er verwies auch darauf, dass 2021 generell knapp drei Viertel der an Depression Erkrankten angaben, ihre Erkrankung habe sich durch die Corona-Maßnahmen deutlich verschlechtert. Ein knappes Drittel hatte einen Rückfall erlitten. 20 Prozent hegten Suizidgedanken.
Kinder und Jugendliche: Suizidversuche und Triage
Die im Juli 2020 veröffentlichte Copsy-Studie offenbarte: Das Risiko für psychische Auffälligkeiten war bei Kindern und Jugendlichen von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent gestiegen. Zwischen März und Mai 2021 mussten bundesweit 500 Kinder nach Suizidversuchen behandelt werden. Im Vergleich zu der Zeit vor Corona war diese Zahl um erschreckende 400 Prozent gestiegen.
Ebenfalls 2021 war die Lage in Kinder- und Jugendpsychiatrien Bayerns bereits mehr als kritisch. Psychisch kranke Kinder mussten teils auf Matratzen auf dem Boden schlafen.
Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, wurde deutlich: „Es gibt psychiatrische Erkrankungen in einem Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll, dort findet eine Triage statt. Wer nicht suizidgefährdet ist und ‚nur‘ eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen.“
All das liest sich nicht nur in der Rückschau dramatisch. Und wo doch alle vom Schutz der vulnerablen Gruppen und systemrelevanten Sektoren sprachen, hätte man erwarten können, dass alles getan würde, um die „parallele Pandemie“ und die „leise Katastrophe“ zu meistern. Zum Beispiel durch präzise Datenerfassung oder durch eine Investitionsoffensive für den sozialen Bereich, der diese Katastrophe irgendwie bewältigen muss. Doch nichts dergleichen geschah.
Bereits im Januar 2021 forderten Mediziner und Parlamentarier die Erfassung der Folgeschäden der Coronamaßnahmen. Der fraktionslose Marcel Luthe kritisierte: „Es kann nicht sein, dass wir ausschließlich tagesaktuell Sars-CoV2-Laborergebnisse erheben, aber erst Monate bis Jahre später erfahren sollen, ob und wie viele Menschen wegen ausgefallener Therapien oder aus purer Existenzangst Suizid begangen haben.“

Der soziale Sektor kollabiert
Nicht nur die „leise Katastrophe“ dauert an. Geblieben ist auch die desolate Situation des sozialen Sektors.
Die Lage in den Jugendzentren ist katastrophal und Sozialarbeiter schlagen Alarm. Die Hälfte der psychiatrischen Einrichtungen in Deutschland schätzt ihre wirtschaftliche Situation als unbefriedigend und nur noch jede zehnte als gut ein, wie das DKI Psychiatrie Barometer 2022/2023 dokumentiert. Die Kinderkliniken drohen selbst zum Notfall zu werden.
In der Pflege wird ebenfalls Alarm geschlagen, teilweise ist bereits von Triage die Rede, was während Corona noch die Gemüter erregte. Wiederholt rufen verzweifelte Pflegemitarbeiter die Feuerwehr oder den Katastrophenschutz an, weil im Heim keine einzige examinierte Arbeitskraft in der Nachtschicht war.
Vier von fünf Pflegeeinrichtungen mussten 2023 ihr Angebot einschränken, weil Personal fehlte und 89 Prozent der ambulanten Dienste lehnten Neukunden ab. Das heißt oft: Pflegebedürftige Menschen bleiben unversorgt.
Miese Arbeitsbedingungen und teils auch schlechte Bezahlung sorgen für einen anhaltenden „Pflexit“ und treiben qualifiziertes und dringend benötigtes Personal aus dem Beruf. Laut einer Analyse der Hochschule Fulda und Verdi sind mehr als 60 Prozent der Befragten häufig oder sehr häufig an der Grenze der Belastbarkeit.
Mehr als ein Drittel der Befragten arbeitet regelmäßig drei oder mehr Stunden wöchentlich zusätzlich. Aufgrund der Personalnot geht sogar die große Mehrheit der Kranken- und Altenpflegekräfte und aller, die in der Kinderbetreuung beschäftigt sind, krank zur Arbeit, wie der aktuelle DAK-Gesundheitsreport 2023 zeigt.
Was ist aus den solidarischen Appellen geworden?
Vor diesem Hintergrund muss man leider feststellen: Die Politik handelte verantwortungslos, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens wurden massive Coronamaßnahmen getroffen, ohne die früh absehbaren Nebenwirkungen zu erfassen und aufzufangen. Zweitens wurde nichts unternommen, um den sozialen Sektor nachhaltig zu stärken, auch dann nicht, als die Nachrichten über die gesundheitlichen und psychischen Schäden der Coronamaßnahmen bereits explodierten.
Angesichts des drohenden Kollapses im sozialen Sektor ist die Ankündigung des Bundesfinanzministers Christian Lindner, bei den Sozialausgaben im Bund einzusparen, um mehr Geld für die Verteidigung zu haben, schlicht zynisch. Was ist aus den solidarischen Appellen zum Schutz des Lebens, der Gesundheitssysteme und der vulnerablen Gruppen geworden?



