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Anfang August 2024 veröffentlichte die Zeitschrift Lancet Respiratory Medicine den Artikel einer Gruppe der WHO-Mitarbeiter (M. Meslé und Co-Autoren), die behaupten, dass Impfstoffe gegen Covid-19 zwischen Dezember 2020 und März 2023 allein in den 54 Ländern des Europäischen Areals der WHO die Covid-Sterblichkeit um 59 Prozent gesenkt und etwa 1,6 Millionen Leben gerettet hätten, davon fast eine Million während der Omikron-Phase. Diese Daten wurden von den deutschen Massenmedien übernommen und verbreitet.
Ein aufmerksames Lesen des Artikels deckt aber eine ganze Menge schwerer methodischer Fehler auf, die die Studienergebnisse umgehend disqualifizieren.
Fangen wir gleich mit dem Wichtigsten an. Ein großes Manko der Studie ist, dass sie sich nur auf die Covid-Sterblichkeit fokussiert, nicht auf die Gesamtsterblichkeit. Einem Gestorbenen ist es im Grunde egal, ob er an Covid-19 oder an einer anderen Krankheit stirbt. Ein Medikament, das 1000 Todesfälle an Lungenentzündung vorbeugen, zugleich aber 1000 zusätzliche Todesfälle an Herzinfarkt hervorrufen würde, hätte netto kein Menschenleben gerettet. Außerdem hängen die Zahlen für Covid-Sterblichkeit von den Kriterien einer Covid-Diagnose ab, und diese Kriterien haben in der Praxis sehr viel Interpretationsspielraum und können dazu stark von Land zu Land variieren.
Nur die allgemeine Sterblichkeit (durch alle Ursachen zusammen) ist praktisch bedeutsam und von jeglichen willkürlichen und diskussionsbedürftigen Kriterien unabhängig. Jedes Medikament – und selbstverständlich jeder Impfstoff – hat sowohl erwünschte als auch unerwünschte Wirkungen. Eine Analyse der allgemeinen Sterblichkeit lässt uns beide berücksichtigen. Der o.g. Artikel ignoriert jedoch die unerwünschten Wirkungen vollständig.
Nun kann man einwenden, dass jede wissenschaftliche Studie in ihren Zielen begrenzt ist. Man könnte argumentieren: Diese Arbeit betrachtet nur die erwünschten Effekte der Impfungen, die unerwünschten sollten also der Gegenstand einer nächsten Studie sein. Dieser Einwand ist vollkommen berechtigt, setzt aber voraus, dass (a) die Autoren noch keine praktischen Handlungsvorschläge aufgrund dieser „ersten“ Studie machen dürften, selbst wenn sie (b) zumindest die erwünschte Schutzwirkung der Impfungen korrekt berechnet hätten. Auf die Studie von Meslé und Co-Autoren (ganz zu schweigen von ihrem unkritischen Medienecho) trifft jedoch weder (a) noch (b) zu.
Praktisches Ergebnis: Blanke Trivialität
Der wichtigste Schluss, den Meslé und Co-Autoren aus ihrer Studie ziehen, lautet: „Die meisten Menschenleben wurden bei Personen über 60 Jahren, in der Omikron-Phase der Pandemie und nach der ersten Booster-Impfung gerettet.“ Daher sei den Älteren eine Booster-Impfung unbedingt zu empfehlen.
Diese Schlussfolgerung ist jedoch eine unmittelbare Folge der getroffenen Annahme, dass die Zahl der Geretteten proportional zur Zahl der Gestorbenen sei – und damit angesichts der exponentiell mit dem Alter zunehmenden Sterberate, der hohen Infektionszahlen der Omikron-Phase und der vergleichsweisen längeren Dauer der Phase nach dem ersten Booster keine Überraschung.
Denn auch ohne Meslé und Co-Autoren haben wir wohl gewusst, dass eben mehr ältere als jüngere Menschen sterben und mehr davon in einem längeren als in einem kürzeren Zeitraum. Auch dass die Zahl der mit und an Covid Verstorbenen mit der Zahl der positiv Getesteten zunimmt, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Aus dieser Plattitüde folgen selbstverständlich keine Schlüsse bezüglich der Wirksamkeit bestimmter Impfungen oder der Gefährlichkeit der im entsprechenden Zeitraum dominierenden Virusvariante.
Schwere Geschütze für Geschützte
Eigentlich folgt die korrekte Berechnung der Zahl geretteter Leben (nur positive Effekte der Impfungen vorausgesetzt, siehe oben!) einer einfachen multiplikativen Formel: Diese Zahl ist das Produkt von der relativen Impfstoffwirksamkeit mal Anzahl der mit diesem Impfstoff Geimpften mal die Häufigkeit der Covid-Todesfälle unter den Ungeimpften (sog. Grundhäufigkeit).
Gerade diese Grundhäufigkeit ist aber ein Problem, weil sie nicht untersucht wurde, obwohl es zum ABC der Epidemiologie gehört, dass ohne Grundhäufigkeitsdaten keine weiteren Analysen zuverlässig sein können (zu diesem seltsamen Unwissen siehe u.a. hier und hier). Man könnte ohne diese Daten nur ein Modell aufgrund der wahrscheinlichen Bandbreite bauen, aber dann wäre das Ergebnis auch nur in Form wahrscheinlicher Schätzungen möglich, während Meslé und Co-Autoren uns offensichtlich am Ende genaue Zahlen präsentieren wollten.
Deshalb betraten sie einen Umweg über die Gesamtzahl der geimpft und ungeimpft Gestorbenen, die man in der genauen Formel gar nicht bräuchte. Bei ihrer Methode muss man dann einen Proportionalitätsfaktor zwischen Gestorbenen und Geretteten finden. Laut der Studie bekommt man diesen, indem man den Anteil der „Geschützten“ durch den der „Ungeschützten“ teilt.
Die Autoren berechnen diese Anteile folgendermaßen: Für jede Woche und jede Art der Vakzine multiplizieren sie den Anteil der Geimpften mit der relativen Wirksamkeit der entsprechenden Vakzine. Im einfachsten Fall, wenn es z.B. nur einen Impfstoff gäbe mit einer relativen Wirksamkeit (gegen Tod) von 70 Prozent, und wenn 60 Prozent der Menschen mit diesem Impfstoff geimpft würden, so wäre nach dieser Logik der Anteil der Geschützten 0,7 x 0,6 = 0,42. Der Anteil der Ungeschützten wäre dann 1 - 0,42 = 0,58.
Oder anders berechnet: 40 Prozent sind ungeimpft geblieben, und von den 60 Prozent Geimpften bleiben noch 100 Prozent - 70 Prozent = 30 Prozent ungeschützt. 30 Prozent von 60 Prozent sind 18 Prozent. Der Anteil der Ungeschützten ist 40 Prozent + 18 Prozent, also wiederum 58 Prozent bzw. 0,58.
Leider aber hängt dieser Umweg absolut kritisch von der Annahme ab, dass die in der Literatur angegebenen Wirksamkeitsprozente genau sind, und dass deshalb nur die (wie oben definierten) „Ungeschützten“ an Covid-19 sterben können. Diese Annahme könnte nur mithilfe von Impfregistern bestätigt werden, die genaue Daten über den Impfstatus der Verstorbenen liefern würden. Da es solche Register nicht gibt, stellt sich die Frage nach den Quellen der Wirksamkeitsangaben.

Fragwürdige Wirksamkeiten
Wie gerade oben gesehen, werden Anteile der Geschützten und Ungeschützten aus den relativen Wirksamkeiten der Impfstoffe gegen den Tod berechnet. Diese Daten wurden aus Beobachtungsstudien entnommen. Die Beobachtungsstudien vergleichen zwei große Gruppen, die der Geimpften und der Ungeimpften. Aber diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Impfstatus, sondern in sehr vielen Eigenschaften – schon deshalb, weil die Ungeimpften nicht zufällig ungeimpft bleiben, sondern sie hatten bestimmte Gründe, warum sie sich entweder nicht impfen lassen konnten oder nicht impfen lassen wollten.
Gute Beobachtungsstudien versuchen zwar einige Faktoren zu kontrollieren, sodass sich die Gruppen z.B. nach Alter, Geschlechterverhältnis oder der Anzahl chronischer Erkrankungen nicht unterscheiden. Aber alle Störvariablen können Beobachtungsstudien grundsätzlich nicht kontrollieren. Der wichtigste in Beobachtungsstudien unkontrollierbare Faktor ist der sogenannte Gesunde Geimpfte: Es wurde deutlich nachgewiesen, dass geimpfte Personen auch unabhängig von der Tatsache der Impfung gesünder sind als ungeimpfte. Die genauen Gründe dafür sind nicht geklärt. Eine aktuelle Hypothese bezieht sich darauf, dass Personen im schlechten Gesundheitszustand die ihnen angebotenen Impfungen eher ablehnen; andere vermuten, dass Menschen, die sich für eine Impfung entscheiden, insgesamt besser auf ihre Gesundheit achten. Aber unabhängig von der genauen Erklärung des Phänomens „Gesunde Geimpfte“ stimmen alle Forscher, die es untersuchen, darin überein, dass es zur heftigen Überschätzung der Impfwirksamkeit in Beobachtungsstudien führt.
Eine (nahezu) vollständige Kontrolle von Störvariablen kann nur in einer anderen Studienart erreicht werden, nämlich in randomisierten Studien (sog. RCT), in denen Menschen per Zufall in zwei Gruppen unterteilt werden: Die eine Gruppe bekommt einen Impfstoff, die andere ein Placebo. Die Cochrane Collaboration, eine Organisation, die regelmäßig alle medizinischen Verfahren auf ihre Wirksamkeit überprüft, analysierte mehrere RCT zur Frage nach Impfwirksamkeit und konnte im Gegensatz zu Meslé und Co-Autoren nur für den Impfstoff der Johnson & Johnson einen schwachen, aber signifikanten Effekt auf Sterblichkeit feststellen, für die Produkte von Pfizer, Moderna und Astrazeneca aber keinen. Auch eine andere umfangreiche Analyse (Preprint, Begutachtung durch Fachkollegen steht noch aus) der randomisierten Studien kam zu ähnlichen Schlüssen. Meslé und Co-Autoren ignorieren diesen Widerspruch völlig.
Neben diesen gravierenden Fehlern erscheinen andere Makel der Studie fast wie Bagatellen, obwohl jede dieser Bagatellen allein ausreichen würde, die Ergebnisse grob zu verfälschen. Die Autoren haben die Zahl der geretteten Leben wochenweise berechnet. Grundsätzlich wäre das richtig, aber die Wirksamkeit der Impfstoffe nimmt von Woche zu Woche ab. Meslé und Co-Autoren nahmen an, diese Abnahme betrage 0,25 Prozent pro Woche. Demnach müssten nach einem Jahr immer noch 88 Prozent der ursprünglichen Wirksamkeit vorhanden sein. Die Daten der größten empirischen Studie (immerhin 1,7 Millionen Teilnehmer) sprechen jedoch eine andere Sprache: Die Wirksamkeit vom BNT162b2 (Biontech/Pfizer) geht schon nach etwa sieben Monaten gegen null, die von ChAdOx1 (Astrazeneca) bereits nach vier Monaten. Auch dieser eklatante Widerspruch ihrer Annahmen zu den empirischen Befunden scheint Meslé und Co-Autoren offenbar nicht erwähnenswert.
Wie ich oben gesagt habe, ist die Zahl der vorgebeugten Sterbefälle das Produkt der Wirksamkeit der Impfstoffe, der Zahl der Geimpften und der Grundhäufigkeit der Covid-Sterbefälle: Die Letztere ist ihrerseits das Produkt der Verbreitung der Infektion und der Infektionssterblichkeit (infection fatality rate, IFR). Daraus können wir die IFR berechnen, die notwendig wäre, damit die im Artikel angegebene Zahl von 936.349 Geretteten während der Omikron-Phase erreicht werden könnte. Dafür müssten wir allerdings die Häufigkeit der Infektion wissen, und das tun wir nicht. Zum Glück reicht in diesem Fall sogar die schlichte Aussage „sehr viel“ für eine Schätzung aus. Denn auch wenn alle (100 Prozent!) Menschen in Europa von Omikron angesteckt wurden, dann sollte diese IFR bei ca. 2,5 Prozent liegen; bei 70 oder 80 Prozent Angesteckten steigen die Zahlen auf vier bis bis Prozent.
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Solche Sterblichkeitswerte sind aber absolut unplausibel. Sogar für den Originalstamm des Virus, der mindestens siebenmal gefährlicher war als Omikron, lag die IFR deutlich unter einem Prozent (hier oder hier). Dementsprechend kamen die chinesischen Autoren, die versuchten, die Infektionssterblichkeit für Omikron direkt zu berechnen, auf die Schätzungen zwischen etwa 0,035 Prozent und 0,06 Prozent. Der Fehler bei Meslé und Co-Autoren ist also fast 100-fach.
Katastrophaler Zustand der medizinischen Wissenschaft
Vor fast zehn Jahren hat der Chef-Editor von Lancet, Richard Horton, festgestellt, dass sich die medizinische Wissenschaft in einem katastrophalen Zustand befinde und dass möglicherweise die Mehrheit aller Publikationen vollkommen wertlos sei. Die Studie von Meslé und Co-Autoren bestätigt diese niederschmetternde Diagnose. Hätten die Autoren auch nur die letzten Reste der Fähigkeit zum Selbstzweifel, so könnten sie schon von mehreren indirekten Anzeichen ein Gefühl dafür bekommen, dass etwas mit ihrer Methodik nicht stimmt. Allein der seltsame Befund, dass die meisten Menschenleben während der Omikron-Epidemie gerettet wurden, obwohl diese Virusvariante eine viel niedrigere Letalität aufwies als die vorangegangenen, sollte jeden ehrlichen Wissenschaftler zur doppelten Überprüfung seines methodischen Ansatzes veranlassen.






