Guten Morgen, Berlin.
Der von der Letzten Generation angekündigte „Stadtstillstand“ steht kurz bevor. Er soll am Montag, den 24. April, beginnen, und ich weiß: Du hast da relativ wenig Bock drauf. Ich weiß auch, dass viele von Euch Berliner:innen immer wieder betonen, dass Ihr ja auf jeden Fall dafür seid, das Klima zu schützen – ich meine: Pariser Abkommen, Zukunft des Planeten, und überhaupt die tollen Fridays, wer kann da dagegen sein? Und da natürlich auch, irgendwann in ferner Zukunft, wäret ihr bereit, bestimmte Einschränkungen und Veränderungen in Eurem alltäglichen Leben zu akzeptieren.
Aber jetzt kommen die Aktivisten. Jetzt, wo sich die undemokratischen Kriminellen der Letzten Generation für den Klimaschutz auf die Straße kleben, jetzt müsst Ihr Euch leider vom Klimaschutz abwenden. Generationenaufgabe hin oder her, Ihr seid einfach zu genervt von den Klima-Klebern. Denn, wie so viele immer wieder sagen: „Die Letzte Generation schadet dem Klimaschutz.“ Aber bringen ihre Aktionen wirklich Menschen vom Klimaschutz ab, die vorher dafür waren?
Ihr merkt das sicherlich selber: Es wäre schon irgendwie ziemlich blöd, sich vom Klimaschutz als gesellschaftlichem, als Politikziel abzuwenden, nur weil einem ein paar Hundert Klimaaktivist:innen auf den Nerv gehen. Das wäre ungefähr so, wie sich von der Idee der Gerechtigkeit wegen der real-existierenden Sozialdemokratie zu verabschieden, oder die Idee der Freiheit dem toxischen Freiheitsverständnis der FDP zu opfern. Es wäre: total irrational.
Es wäre ungefähr so irrational, wie der Moment, als Olaf Scholz den recht gesitteten Zwischenruf eines Klimaaktivisten („Sie reden Schwachsinn!“) auf dem Deutschen Katholikentag mit dem faschistischen Terror vor der Machtübergabe verglich. Es wäre ähnlich irrational, wie die Klimapolitik der Bundesregierung, die, anstatt das Klimaschutzgesetz zu ändern, lieber ihrem Verkehrsministerium den Rechtsbruch erlaubt. Und es wäre fast so irrational, wie die zunehmend entfesselte Brutalität und der Hass, der der Letzten Generation auf manchen Berliner Straßen entgegenschlägt.
Diese Irrationalität ist längst ein bestimmendes Merkmal dessen, was wir freundlich immer noch die „Klimadebatte“ nennen. Wir alle verdrängen permanent die reale Bedrohung durch die Klimakrise und nehmen nur wahr, dass die Menschheit nicht handeln will. Daraus entsteht eine Tendenz zur psychologischen Dissoziation, eine Überforderung, ein Nicht-mehr-denken-wollen.
Die Klimakatastrophe ist in Deutschland angekommen
Dumm nur: Die meisten Strategien der Klimabewegung (wie anderer sozialer Bewegungen auch) gehen davon aus oder hoffen darauf, dass auf der anderen Seite, bei der zu verändernden Mehrheitsgesellschaft, rationale Akteure am Werk sind. Zum Beispiel basierten die Strategie der Antiatom- und der Antikohle-Bewegungen auf der Annahme, dass Menschen auf reale Bedrohungen auch rational reagieren würden; eine Bedrohung sollte abgewehrt werden. Dass sie also, sobald sie auf die Bedrohung hingewiesen werden, auch rational auf diese Bedrohung reagieren, in dem sie echten, radikalen Klimaschutz vorantreiben. Spätestens die Flut im Ahrtal zeigte: Die Klimakatastrophe ist auch in Deutschland angekommen, sie tötet auch hier Menschen.
Jedoch hat dieses „Ankommen“ der Klimakatastrophe in Deutschland, und das gesellschaftlich sehr weit verbreitete Wissen darüber, nicht zu einer signifikanten „Begrünung“ unserer Produktions- und Lebensweise geführt. Tatsächlich machen wir im Grunde immer weiter so, wie vorher, vielleicht jetzt mit mehr Gas, als Kohle, und mit SUVs anstatt Käfern, aber im Grunde gilt: weitermachen, egal was die Kosten sind. Also muss die reale Klimakatastrophe verdrängt werden, muss das eigene Nicht- oder gar Kontraproduktivhandeln verdrängt werden, und zusätzlich dazu noch der immer lauter warnende Klimaaktivismus verdrängt werden.
„Klimastreik“ von Fridays for Future? Egal, viel zu klein, um Aufmerksamkeit zu erringen, und schon in den Diskurs „eingepreist“. Gaskraftwerkblockade von Ende Gelände und Konsorten? Kennen wir auch alles schon, das machen Linksradikale halt, sie blockieren Sachen. Lützerath wird abgebaggert? Schön heroisch, was sie gemacht haben, aber was kümmert es den Rest des Landes? Am Ende wird alles verdrängt, was die eigene materielle und psychologische Bequemlichkeit herausfordern würde, weshalb der deutsche Klimadiskurs mittlerweile keine rationale Veranstaltung mehr ist, sondern eine Art Praxisseminar zum berühmten Kübler-Ross-Modell, den 5 Phasen der Trauer:
1) Leugnen: Ein Großteil des real-existierenden Klimadiskurses besteht aus Formen der Klimaleugnung, wie zum Beispiel „wird schon nicht so schlimm werden“, oder „wir haben ja noch Zeit“.
2) Zorn: Diese Reaktion erkennen wir vor allem in den zunehmend brutalen verbalen wie physischen Angriffen auf Klimaaktivist:innen, allen voran der Letzten Generation, denn den Klimawandel kann man nicht verprügeln.
3) Verhandeln: Jeder „Green Economy“-Diskurs, jedes Bisschen Emissionshandel („Lasst uns das Klima dort schützen, wo es am billigsten geschützt werden kann“), jede Stimme für einen „Klimakanzler“ der fossilen Betonpartei SPD, jede Hoffnung, dass eine zutiefst dem bürgerlichen Status quo verpflichtete Partei wie die Grünen, oder dass eine zahnlose Institution wie die UN-Klimarahmenkonvention das Klima vor dem Kapitalismus schützen kann, jeder Carbon Offset Credit ist nichts anderes als psychologisches „Bargaining“, ein Verhandeln.
4) Depression: Dazu muss ich wohl nicht mehr viel sagen.
Die Eskalation kommt genau zur richtigen Zeit
Genau diese Barrieren der Irrationalität will die Letzte Generation mit ihrem Stadtstillstand durchbrechen, sie will eine Art heilsamen Schock vermitteln, der uns als Gesellschaft dazu befähigen soll (Stichwort „Gesellschaftsrat“), eine rationale Klimadebatte miteinander zu führen. In dem Sinne kommt die Eskalation der Letzte Generation genau zur richtigen Zeit, mit der richtigen (weil nervenden) Aktionsform.
Wir sehen uns dann hoffentlich bald auf der anderen Seite, in Phase 5: Akzeptanz. Darauf hoffe ich zumindest.





