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Vor lauter Zukunftsvisionen hatte die Politik lange die Gegenwart vergessen. So sind ihr vielfach die strukturellen Grundlagen der sozialen Zukunft erodiert. Viele leiden nun unter der wachsenden Ungleichheit, andere fürchten in der Krise um Besitzstände. Auch hat sich in der Gesellschaft ein kultureller Überdruck an in Zeiten politischer Korrektheit nicht mehr Sagbarem aufgebaut. In der Folge begegnet dem linksliberalen Mainstream in den nationalen Libertären ein neuer Gegner. Viele Linksliberale bauen nun die Schützengräben aus. Doch mancher hält auch inne und sieht die Widersprüchlichkeiten nicht nur auf der anderen, sondern auch auf der eigenen Seite.
Der Linksliberale alter Schule verehrt die Natur, und beansprucht, sie schützen zu wollen. Sich selber sieht er aber nicht als Teil davon, und beschneidet seine Sprache und sein Denken, als wären sie Hecken in seinem Vorgarten.

Der neue Libertäre hinwiederum rühmt die frische Luft auf dem Land und macht sich für fossile Brennstoffe stark. Er hält sich an das Augenfällige. Sobald ihm einer etwas von CO₂ erzählt, oder anderen Dingen, die nicht direkt zu sehen sind, argwöhnt er, dass hinter der Annahme entsprechend unsichtbarer Wirkmechanismen nichts anderes stehe als Propaganda im Dienst einer Versklavung der Menschheit.
Ein Abgrund neuer Unfreiheit
Die entsprechende Ablehnung substanziellen ökologischen Denkens durch neulibertäre Politiker hängt dabei keineswegs nur mit wirtschaftlichen Interessen der Industrien zusammen, mit denen sie alliiert sind. Oder damit, dass Staaten, mit denen sie sympathisieren, starke Exportinteressen betreffs fossiler Brennstoffe haben. Oder vom Klimawandel kurzfristig profitieren mögen.
Sie hat auch damit zu tun, dass eine globale ökologische Dringlichkeit übernationale Koordination wirtschaftlichen Agierens und gemeinsame Standards verlangen würde – Alptraum des neuen Libertären: Etwas, an das man sich halten müsste! Dabei ist an diesem Wahnsinn ein Körnchen Wahrheit. Wie die neuen Libertären – nach orthodoxem Forschungsstand – in den Abgrund der ökologischen Katastrophe, so laufen die Linksliberalen in einen Abgrund neuer Unfreiheit und Ignoranz.

Die Corona-Krise hat gezeigt, wie Widerstände in Bevölkerung und Wirtschaft linksliberale Akteure in Versuchung führen, auf die Meinungsbildung restriktiv Einfluss zu nehmen. Dies teils aus eigener Überzeugung, teils in Reaktion auf den Lobbyismus der Industrien, die von der je entsprechenden Politik profitieren würden. Mit ähnlichem ist auch in Bezug auf die Klimapolitik zu rechnen. Dabei führt eine solche Logik der Verwerfung des Anders-Denkens gerade zu der Art von Situationen, in der so etwas wie „alternative Fakten“ überhaupt entstehen können.
Von Fakten und Fiktionen
Unter dem Pseudobegriff alternativer Fakten unterstellt mancher neue Libertäre dabei gegenüber den durch den wissenschaftlichen Mainstream präsentierten Fakten einfach solche, die zu den eigenen Interessen passen, und erklärt letztere so für vernünftig und realistisch. Er beruft sich getreu dem Prinzip „Wissen ist Macht“ darauf, dass eine Überzeugung die Chancen ihres Trägers erhöhen muss, um wahr sein zu können. Und sucht dann teilweise, die Vertreter konkurrierender Überzeugungen dadurch zu widerlegen, dass er im Zweifelsfall selbst dafür sorgt, dass jene mit ihren Überzeugungen – keine Chance haben.
Doch der Fall ist selten, dass es bloß aufgrund von Machtverhältnissen für eine Gruppe sinnvoll ist, ihre Welt direkt in den Begriffen einer mächtigeren Gruppe zu beschreiben. Viele Dinge, die man sieht, verschwinden nicht dadurch, dass man sie bestreitet oder dass es politisch opportun wird, sie abzustreiten. Sie sind also Fakten und keine Fiktionen – und können reale Probleme schaffen. So dass es die Handlungsmöglichkeiten langfristig erhöht, an sie zu glauben.

Im selben Sinne führt die Ausgrenzung alternativer wissenschaftlicher Ansätze allerdings auch für den Linksliberalen zur Gefahr von Blindheiten und zur Unvorhersagbarkeit von Entwicklungen, die seinen Erwartungen zuwiderlaufen würden. Gerade ein Linksliberaler braucht daher intelligente Grenzen zu den Überzeugungen des politischen Gegners. Darüber hinaus hat ein linksliberaler Populismus, der sich nur in Abgrenzungen erschöpft, keine positive motivationale Kraft, und ist am Ende auch nicht besser als der Feind, da er sich derselben Methoden bedient.
Dem Linksliberalen bleibt also einzugestehen, dass, mag jemand auch ein Teufel sein, er dennoch einen Punkt haben kann. Das gibt einer reflektiert-linksliberalen Position den Reiz der Gefahr, sich zwischen allen Stühlen wiederzufinden oder von dem, dem sie sich vorsichtig nährt, am Ende verschlungen zu werden. Aber: Ein Reiz ist ein Reiz. Und generiert so politisch wertvolle Aufmerksamkeit für die eigene Position.
Entsprechend empfiehlt sich für den Linksliberalen ein kritisches Interesse auch für reaktionäre Standpunkte; und eine Bereitschaft zum kritischen Anschluss an das, was sich in ihnen – sei dies auch pervertiert – ausdrückt. Dabei ist es zunächst nötig zu erkennen, was Menschen am Reaktionären anziehend finden.
Zuflucht bei konservativen Fantasien neuer Libertärer
Es ist dies wenigstens zum Teil die Kraft der Ignoranz, aus einer positiven Haltung zum eigenen Nichtwissen heraus. Es ist das, wo einem das Lächeln über die Borniertheit eines Menschen ins Komplizenhafte umschlägt. Es ist der vornehmliche Bezug auf das, was dem Individuum eigen oder nah ist – ein Aufstand des Privaten gegen alles, was mit Allgemeinheitsanspruch auftritt.
Darum sucht mancher gegen die Gefahr eines globalen technischen Zugriffs mittels KI auch Zuflucht bei konservativen Fantasien neuer Libertärer. Was sich als verfehlt erweisen wird, wenn die Neulibertären die Menschheit am Ende zwar nicht an übernationale Organisationen, aber an die Willkür von Konzernen wie auch an technisch optimierte Nachtwächterstaaten in Diensten von Privatwirtschaft und nationalen Interessen ausliefern, die kritische Berichterstattung verhindern.
Doch muss der Linksliberale anerkennen, dass das, was in einer konstruktiven Bedeutung reaktionär genannt zu werden verdiente, zunächst einfach der Anerkennung von zwei Prinzipien vernünftigen Handelns entspricht: Erstens, dass es kaum vernünftig ist, sich einem Gesetz ernsthaft zu unterwerfen, das man nicht legitim finden kann. Zweitens, dass eine Moral sinnlos ist, für deren Befolgung und gesellschaftliche Wirksamkeit sich kein hinreichender Antrieb finden lässt.

In Bezug auf seine Antriebe ist das faktische reaktionäre Treiben dann allerdings nicht besonders wählerisch. Es wird, wie im Falle der Industrie, genutzt, was leicht erschließbar ist. Und sei dies die wohlfeile Möglichkeit, gesellschaftlich unterdrückte Homoerotik unspezifisch in politisch wirksame Aggression und sogar militärische Durchschlagskraft zu konvertieren. Für das reaktionäre Wesen hat Homosexualität den natürlichen Zweck, zu einer Art fossilem Brennstoff zu werden, und so erzeugt es fleißig den hierzu nötigen gesellschaftlichen Druck.
Eine Annäherung an die Moral aus dem Ideal
Allgemein versucht der Reaktionär, sich der Moral gleichsam von unten – aus seiner patriarchalisch verfassten seelischen Realität her – zu nähern. Um sich im üblen Fall einfach von ihr bedienen zu lassen. Der Linksliberale nähert sich der Moral dagegen aus dem Ideal. Er darf deshalb auch nie so implizit zynisch sein, wie mancher Reaktionär es ist, wenn dieser anderen eine Moral einfach nach seinem eigenen Gusto auferlegt.



