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Der Tod meines Freundes und der Kampf um einen Abschied in Würde

Unsere Autorin trauert um einen Mann, mit dem sie ihr Leben geteilt hat. Sein Ende in Berlin war tragisch. Seine Bestattung soll ihm die Würde zurückgeben.

Ein Abschied in Würde steht jedem Menschen zu. (Symbolbild)
Ein Abschied in Würde steht jedem Menschen zu. (Symbolbild)imago images

Am Samstag ist mein Freund gestorben. Seitdem laufe ich heulend durch meine Wohnung und meine Blicke bleiben immer wieder an den Dingen hängen, die ihm gehörten. Es sind eine Menge Dinge, die er in unseren gemeinsamen fünf Jahren zu mir gebracht hat und die mich jetzt alle an ihn erinnern. Heute fiel mein Blick auf ein Dutzend Jacketts, die er einst irgendwo günstig gekauft hatte. „Was willst du denn mit den vielen Jacketts?“, hatte ich ihn damals gefragt, „ich habe dich noch nie in einem Jackett gesehen!“, aber er hatte fröhlich geantwortet: „Die muss ich doch bei der Hochzeit deines Sohnes tragen!“

Mein Sohn war damals 16 und hatte nicht die Absicht, in nächster Zeit eine Ehe einzugehen. Mein Freund hatte einen schrägen Humor und erzählte gerne Geschichten. Es sind gefakte Blazer von Armani und Hugo Boss in Beige und Schwarz und dezentem Grau, und er hat nicht eines davon getragen. Während ich die Schranktür schließe, fange ich schon wieder an zu heulen.

Eigentlich war mein Freund gar nicht mehr mein Freund. Im Februar war er ausgezogen, als ich ihm sagte, dass ich keine Kraft mehr hätte, ihm zu helfen. Mein Freund litt schon länger an Herzinsuffizienz, im Januar hatte er noch dazu Corona bekommen, und obwohl sein Test bald wieder negativ war, hat sein Herz dieses Virus wahrscheinlich nicht überstanden. Als er im Januar so krank wurde, dass er nicht mehr aufstehen konnte, dachte ich, er würde sterben. Ich versuchte damals vergeblich, Hilfe für ihn zu finden.

Keine Arztpraxis wollte ihn kostenlos behandeln

Er besaß keine Krankenversicherung und keine Papiere mehr, er hatte vor einiger Zeit alles verloren, unter Umständen, auf die ich jetzt nicht eingehen will, aber als ich in diesen Wochen verzweifelt nach medizinischer Hilfe für ihn suchte, gab es niemanden, der ihm helfen wollte oder konnte.

Ich fand keine Arztpraxis, die ihn kostenlos behandelt hätte, der Malteser-Hilfsdienst, von dem er bis dahin seine Medikamente erhalten hatte, verweigerte die Untersuchung wegen seiner Corona-Infektion, der Notarzt, den ich privat bezahlte, verschrieb ihm neue Entwässerungstabletten und meinte, es wäre nicht so schlimm, und keine einzige Behörde, kein Verein, keine Institution, die ich tagelang verzweifelt anrief, fühlte sich verantwortlich für ihn.

Ich vermisse dich, Papa

Von Miray Caliskan

13.08.2021

Verrückterweise erwischte ich gestern, als ich die Formalitäten seines Begräbnisses klären wollte, einen Bearbeiter im Gesundheitsamt, der sich an den Namen meines Freundes erinnerte. Es war der gleiche Bearbeiter, der mich im Januar so freundlich an andere Stellen verwiesen hatte, weil er nicht zuständig sei.

Der Artikel 1 unseres Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Während meines Einsatzes für meinen Freund habe ich erfahren müssen, dass dieser Satz nicht für alle Menschen in unserem Land gleichermaßen gilt. Mein Freund war Schwarz. Er war als Kriegsflüchtling vor über 30 Jahren aus Angola nach Deutschland gekommen, er hat hier eine Ausbildung gemacht, ein Haus gebaut, geheiratet, ist Vater geworden und hat in all diesen Jahren ununterbrochen gearbeitet.

Bis zum letzten Atemzug hat er gearbeitet

Er hat auf staatliche Hilfen verzichtet. Er war selbstständig, er hat nie einen Cent Sozialhilfe erhalten und er hat buchstäblich bis zu seinem letzten Atemzug gearbeitet, auch wenn er dafür eigentlich schon viel zu schwach war. Es ist bitter für mich, dass jetzt ukrainische Flüchtlinge ohne Einschränkungen Zugang zu unserem Gesundheitssystem erhalten, während ich damals vergeblich für ihn gekämpft habe. Damit möchte ich nicht sagen, dass man den ukrainischen Flüchtlingen nicht helfen soll – man sollte allen Menschen helfen, ohne Unterschiede im Hinblick auf ihre Situation, Herkunft oder Farbe ihrer Haut.

Kurz nachdem ich die Nachricht vom Tod meines Freundes erhalten hatte, stand die Kriminalpolizei vor meiner Tür. Man hatte meinen Freund in einem Hausflur gefunden, in einem „halböffentlichen Raum“, deswegen muss nun ermittelt werden, ob er eines natürlichen Todes gestorben sei. Inzwischen wurde sein Körper zur Gerichtsmedizin gebracht.

Als mich Anfang des Jahres die Kraft verließ und ich nirgendwo Unterstützung fand, hatte ich seine Freunde informiert und sie hatten ihn begleitet bis zum Schluss. In den letzten Monaten hatte er halb auf der Straße gelebt. Er war immer schwächer geworden und am Ende hatte er kaum noch Geld. Für ein paar Euro hat er sich mit Hilfsarbeiten verdingt. Seine Freunde haben ihm zu essen gegeben und ihm Schlafplätze organisiert. Ich hatte nichts davon gewusst, auch wenn ich geahnt hatte, wie schlecht es ihm ging.

Manchmal hatte ich gedacht, dass ich ihn zurückholen müsse, ihn heiraten, damit er wenigstens eine Krankenversicherung bekäme, aber ich wusste, dass das bürokratische Prozedere lange gedauert hätte und in der Zwischenzeit hätte meine Kraft einfach nicht gereicht. Der Malteser Hilfsdienst hatte ihm als einzige Therapie Tabletten verschrieben und ihn aufgefordert, sich eine Waage zu kaufen und ein Wiegeprotokoll zu erstellen angesichts seines dramatischen Gewichtsverlusts. Ich frage mich, ob diese therapeutische Maßnahme für einen Obdachlosen wirklich ernst gemeint war.

Monatelanger Streit um eine Krankenhaus-Rechnung

Dabei will ich nicht behaupten, dass mein Freund nicht seinen eigenen Anteil an seinem Sterben hatte. Er hat sich trotz seiner Krankheit nicht um eine Krankenversicherung gesorgt und zum Schluss hatte er sich geweigert, ins Krankenhaus zu gehen. Allerdings glaube ich auch nicht, dass ihn ein Krankenhausaufenthalt gerettet hätte.

Als er das letzte Mal wegen seiner Erkrankung im Krankenhaus gewesen ist, wurden ihm medizinische Untersuchungen versagt, als man von seiner fehlenden Krankenversicherung erfuhr. Hinterher hatte ich monatelang mit dem Inkassounternehmen um die Krankenhaus-Rechnung von 3350 Euro gestritten, bis die Forderung schließlich eingestellt wurde. Vielleicht hatte er am Schluss auch deshalb Angst vor dem Krankenhaus.

Inzwischen sind seit seinem Tod zwei Wochen vergangen, in denen ich um eine würdevolle Beerdigung für ihn kämpfte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, aber auch nach seinem Tod wurde ihm seine Würde versagt. Wenn ein Mensch stirbt, sind seine Angehörigen verpflichtet, ihn zu bestatten, besagt das deutsche Bestattungsrecht. Wenn es keine Angehörigen gibt oder sie sich weigern, übernimmt der Staat das Begräbnis und holt sich hinterher die Kosten von der Familie zurück.

In diesem Fall kommt nur die billigste Variante in Betracht: Der Tote wird verbrannt und anonym verscharrt. Ein unbarmherziger bürokratischer Mechanismus, gegen den man, wenn man nicht verwandt mit dem Verstorbenen ist, ihn aber trotzdem in Würde begraben möchte, kaum ankommen kann. Weder ich noch sein bester Freund erhielten Auskünfte von der Polizei, und unsere Bitte, unsere Telefonnummern an seine Familie weiterzuleiten, zu der er seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt hatte, wurde trotz des Versprechens ignoriert.

Eine Woche lang telefonierte ich jeden Tag mit dem zuständigen Beamten, ich bettelte und flehte um Informationen, ich versicherte immer wieder, dass wir im Falle der Weigerung der Familie die Bestattung übernehmen wollten, aber ich biss bei ihm auf den Granit der Gleichgültigkeit. Sicher war der Beamte juristisch gesehen im Recht. Ich war nur die letzte Lebensgefährtin und hatte kein Recht darauf, Auskünfte zu erhalten und die Familie meines Freundes meldete sich nicht bei mir.

Am fünften Tag regte sich Mitgefühl bei dem Beamten

Erst am fünften Tag erfuhr ich, dass der Beamte trotz meiner verzweifelten Bitten nicht daran gedacht hatte, meine Nummer weiterzugeben. Erst als ich endgültig die Fassung verlor und ihm unter Tränen erklärte, wie unmenschlich es sei, nahestehenden Menschen die Bestattung zu verweigern und dass dies mit Blick auf die Kosten sicher auch nicht im Interesse des Staates sei, regte sich doch etwas wie Mitgefühl bei ihm. Oder buchhalterisches Gewissen. Jedenfalls rief mich die Familie gleich darauf zurück.

Sie hätten kein Interesse an einer Bestattung, erfuhr ich, aber wenn wir für die Kosten aufkommen würden, dürften wir das gerne übernehmen.

Der Weg zur Bestattung unseres Freundes war endlich frei. Es stand fest, dass es eine Erdbestattung geben muss, da seine Freunde überwiegend katholisch sind und es ihren Traditionen entspricht, und dass ich alle Absprachen wegen der Bestattung übernehme, da man mich bei den Behörden eher akzeptieren würde als sie.

Während ich mich jetzt um die Formalitäten der Bestattung kümmere, haben seine Freunde angefangen, Geld dafür zu sammeln. Den Bestattungstermin haben sie noch einmal verschieben müssen, weil „die Leute erst am 30. Geld kriegen“, haben sie mir gesagt. Mein Freund hatte unzählige Freunde in dieser Stadt, aber viele von ihnen arbeiten in prekären Jobs. Sie sind Paketboten, Reinigungskräfte oder arbeiten in einer Fabrik und ihr Geld war Mitte des Monats, als mein Freund starb, fast schon wieder aufgebraucht. Mein Freund war Handwerker, er hat ihnen immer geholfen und oft hat er dafür noch nicht einmal Geld verlangt, aber jetzt reicht es kaum für sein Grab.

Plötzlich muss ich entscheiden, wie sein Sarg aussehen soll, auf welches Kissen er gebettet wird und ob wir seine letzte Kleidung besorgen oder ob ich eines der Totenhemden kaufe, die furchtbar hässlich sind. Außerdem muss ich dem Bestatter erklären, dass seine Freunde den Toten noch einmal sehen wollen, sie müssen sich vergewissern, dass er sich wirklich in dem Sarg befindet, bevor er in die Erde gelassen wird. Ich habe ihnen gleich gesagt, dass ich bei der Leichenschau nicht dabei sein will.

Ich möchte meinen Freund so in Erinnerung behalten wie in den Jahren, in denen wir zusammen gewesen sind. „Det wollen Se ooch nich sehen“, sagt mir der Bestatter in seiner direkten Art, „wenn n Leichnam vonne Jerichtsmedizin wiederkommt!“, und anschließend plaudern wir über die Kosten der Kühlung, die gestiegenen Preise für die Blumen, über den Zeitpunkt, bis zu dem der Tote eingekleidet werden muss und darüber, dass der Bestatter schon einmal alleine an einem Grab gestanden hat, weil kein einziger Angehöriger erschienen war.

Was die Kleidung betrifft, haben wir entschieden, dass wir meinem Freund einen neuen Anzug für seine letzte Reise kaufen und dass die Jacketts in meinem Schrank seine afrikanische Familie bekommt.

Sie werden bei seinem Begräbnis singen

Am Tag nach seinem Tod waren seine Freunde zu mir gekommen und hatten gesungen für ihn. Ihr Gesang ging einem direkt ans Herz, und irgendwie war mein Freund bei uns in diesem Moment. Sie werden auch bei seinem Begräbnis singen und auch wenn sein Tod noch immer unbegreiflich für mich ist, die Tatsache, ihn nie mehr wiederzusehen, wird er uns doch noch einmal ganz nahe sein.

Allerdings stimmt das nicht ganz, dass ich ihn nicht mehr wiedergesehen habe – eine Woche nach seinem Tod habe ich von ihm geträumt. Er war im Krankenhaus, er war operiert worden und auf dem Weg der Genesung, und er war so glücklich und fröhlich wie ein Kind. Er hüpfte in seinem Krankenhauskittel herum und zeigte mir, was er nach der Operation schon wieder alles konnte – er konnte wieder richtig atmen, er konnte laufen, er konnte sogar hüpfen und ich umarmte ihn. Es war ein so schöner Traum.

Nur eines war seltsam: Er hatte eine weiße Haut. Als ich seinen Freunden von diesem Traum erzählte und fragte, was sie davon halten würden, strahlten sie übers ganze Gesicht. „Er ist bei Gott angekommen, er hat seinen Frieden gefunden!“, erklärten sie mir. „Und seine weiße Haut?“ „Das heißt, dass er ein Engel geworden ist!“

Auch wenn ich es merkwürdig finde, dass die Engel im afrikanischen Himmel eine weiße Hautfarbe haben, hat er mich doch getröstet, dieser Traum. Mein Freund wird in Würde von dieser Erde gehen und in Frieden irgendwo ankommen, auch wenn ich nicht daran glaube, weder an Gott noch an den Himmel, tröstet mich das irgendwie.

Rahel von Wroblewsky, geboren 1964, ist Schriftstellerin und Lektorin. Sie lebt in Berlin.

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