Tagebuch einer Tochter

Ich vermisse dich, Papa

Der Vater unserer Autorin starb im Dezember auf der Corona-Intensivstation. Jetzt verfolgt sie die Debatte um die Impfungen, die sein Leben gerettet hätten.

Eine Intensivpflegerin versorgt einen Covid-19-Patienten.
Eine Intensivpflegerin versorgt einen Covid-19-Patienten.AFP/Josep Lago

Berlin-Freitag, 4. Dezember 2020: Es sind manchmal die absurdesten Fragen, die Menschen für sich selbst beantworten müssen. Fragen, auf die sie sich niemals hätten vorbereiten können: Was packe ich ein, während mein Vater auf einer Intensivstation um seine letzten Atemzüge ringt. Welche Klamotten greife ich aus meinem Kleiderschrank, wo ich ganz genau weiß, dass mein Papa sich vielleicht in wenigen Minuten, vielleicht in wenigen Stunden für immer vom Leben verabschieden wird. Ohne vom Leben selbst die Chance bekommen zu haben, sich von mir, von seiner Familie, zu verabschieden.

Irgendwas Schwarzes. Jeans. Strumpfhosen. Dicke Socken. Ein Top, das man unter dem Rollkragenpullover anziehen wird. Denn es ist Winter und die Beerdigung auf dem Friedhof wird eisig sein. Seltsam, wie der Mensch funktioniert. Egal, was passiert, er versucht zu überleben, selbst wenn ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Einen Funken Rationalität zu bewahren. Wozu eigentlich?

Hab keine Angst, Papa

Von Miray Caliskan

04.12.2020

Es ist irgendwann zwischen 1 und 3 Uhr in der Nacht. Mein Koffer liegt offen auf dem Boden. Mein Zug fährt um 4.30 Uhr vom Berliner Hauptbahnhof ab. Die Stimme des Arztes, mit dem ich vor einigen Stunden telefonierte, echot in meinem Ohren. Er stammelte viel, dieser Arzt. Weil er nicht so gut Deutsch sprach, musste er um seine Worte kämpfen und fand nicht die richtigen, um den katastrophalen Zustand meines Vaters für mich zu beschreiben.

Es war ein Routineanruf auf der Intensivstation des Städtischen Klinikums Ludwigshafen, auf der mein Vater seit genau vier Wochen lag, und Minute für Minute gegen den Schaden in seinem Körper kämpfte, den das Coronavirus angerichtet hatte. Wir wechselten uns bei den Telefonaten mit meiner Schwester ab. Am Abend des 3. Dezembers war ich an der Reihe. Kurz nach 22 Uhr, ich saß auf meinem Sofa in meinem Wohnzimmer, wählte ich wie jeden Tag die Nummer der Krankenhausauskunft, die mich mit der Covid-19-Intensivstation verband.

Ich spürte mein Herz in meiner Brust schlagen, hielt wie immer meine Luft an. Aber ich war innerlich beruhigt, denn am Vormittag sagte die Pflegekraft meiner Schwester noch, dass die Therapie mit dem Ecmo – eine Maschine, die pro Minute literweise Blut aus seinem Körper saugte, es mit Sauerstoff anreicherte, von Kohlendioxid befreite und es wieder zurückpumpte – gut anschlage, mein Vater sie sehr gut vertrage und es alles in allem in eine gute Richtung gehe. Klar, seine Sauerstoffsättigung sei noch nicht im gesunden Bereich, sagte sie. Aber mein Vater zeige, dass er kämpfe. Wir sollen Hoffnung bewahren, er werde es schon schaffen.

Eine Pflegerin begrüßte mich kurz auf der anderen Seite der Leitung, und plötzlich hörte ich sie in flüsternder Stimme zu jemandem sagen: „Frau Caliskan ist am Telefon.“ Als der stammelnde Arzt den Hörer übernahm, stand ich bereits auf den Füßen. „Frau Caliskan, wir glauben nicht, dass Ihr Papa die Nacht überstehen wird.“

„Was reden Sie denn da“, fragte ich ihn. „Ihm ging es doch heute Vormittag gut.“

„Das hat sich leider geändert“, antwortete er. „Ihr Papa hat in der Lunge angefangen zu bluten. Wir konnten die Blutung nicht lokalisieren, sie hat das Ecmo-Gerät verstopft und wir mussten ihn herunternehmen.“

„Ohne die Ecmo überlebt er es nicht“, sagte ich. „Wollen Sie mir gerade sagen, dass mein Vater stirbt?“

„Es sieht so aus.“

„Sollen wir kommen? Sollen wir kommen?“

„Warten Sie. Ich bespreche das mit meinen Kollegen … Ja, kommen Sie.“

Ich rief meine Schwester an. Sie ging nicht ran. Ich schrieb ihr. Sie ging ran. Ich stieß die Worte heraus: „Fahrt ins Krankenhaus. Babam ölüyor. Papa stirbt.“

Ich saß im Zug, als mein Schwager mich über seinen Tod informierte

Ich habe das Tagebuch weitergeführt, das ich für ihn begonnen hatte. Habe auch danach, über Wochen hinweg, Seiten über Seiten gefüllt, um das Geschehene für mich zu verarbeiten, niemals zu vergessen, was meiner Familie und mir widerfahren ist. Nachdem mein Papa wegen der Blutung in seiner Lunge vom lebensrettenden Ecmo-Gerät heruntergenommen werden musste, wurde er künstlich über einen Schlauch durch seinen Mund beatmet. Sein Körper schaffte es nicht, darüber genug Sauerstoff aufzunehmen und das CO2 abzuatmen. So stieg der Kohlendioxid-Gehalt in seinem Blut von Stunde zu Stunde. Er starb am 4. Dezember um 5.20 Uhr. Ich saß im Zug, als mein Schwager mich per Chat über seinen Tod informierte. Meine Mutter durfte sich von ihm verabschieden, da war er noch am Leben – von meinem Papa, der in seinem weißen Krankenbett ganz rosig, ganz jugendlich aussah, erzählte sie mir später. Warm, als würde er schlafen und nicht innerlich ersticken.

Die Bestattungsfirma holte ihn vier Tage nach seinem Tod in einem versiegelten Sarg von der Klinik ab. Wir durften ihn nicht mehr sehen. Zu groß sei die Gefahr, uns zu infizieren, erklärten die Mediziner. Er habe nicht gelitten, betonten sie immer und immer wieder. Wir beerdigten ihn in meiner Heimatstadt Mannheim. Ich umarmte seinen Sarg, um zu begreifen, dass er nicht mehr da ist. Ich begreife es noch heute nicht.

Ich habe in den vier Wochen, in denen mein Vater auf der Intensivstation lag, keine Sekunde daran geglaubt, dass er stirbt. Er hatte so lange gekämpft, nicht nur gegen das Coronavirus, das seine Lunge zerfetzte, sondern auch gegen massive Blutungen an seinen operativen Einschnittstellen, gegen eine bakterielle Superinfektion oder eine Blutvergiftung, die er wegen der vielen Medikamente erlitt, die ihm verabreicht werden mussten. Wenn jemand so sehr überleben will, dann muss ihm doch auch das Universum die Chance geben, zu seiner Familie zurückzukehren, dachte ich damals. Seine Krankenhausakte, die wir einforderten, ist dicker als das Telefonbuch.

Impfmüdigkeit: In was für einer privilegierten Welt wir leben

Seit dem Tod meines Vaters ist viel passiert. Die Infektionszahlen sind gestiegen, gesunken und sind nun wieder dabei zu steigen. Es sind bundesweit Zehntausende von Menschen gestorben, darunter mehr als 91.000 Covid-19-Erkrankte. Es wurden strenge Lockdown-Maßnahmen beschlossen und wieder gelockert. Manche fanden sie sinnvoll, manche maßlos übertrieben. Manche Menschen – Eltern, Jugendliche, Geschäftsinhaberinnen, Kulturschaffende – wurden von der Politik in den vergangenen Monaten nicht gesehen und litten leise vor sich hin. Dagegen zogen andere laut durch die Innenstädte, nicht weil sie gerechtfertigte Kritik hatten, nein. Sie versammelten sich, um gemeinsam zu hassen.

Es wurde viel gestritten, viel debattiert, viel beleidigt in dieser Pandemie. Und das Allerwichtigste: Es wurden Impfstoffe zugelassen – mehrere –, die in den allermeisten Fällen schwere Corona-Verläufe verhindern. Und es wird weiterhin an angepassten Corona-Mitteln geforscht, um uns auch vor neuen Mutanten zu schützen, die unserem Immunsystem und dem Immunschutz zu entkommen versuchen.

Seit einigen Wochen stockt die deutsche Impfkampagne. Plötzlich ist von Impfmüdigkeit die Rede. Allein an diesem Begriff, der mittlerweile zum Alltagsgebrauch gehört, erkennt man, in was für einer privilegierten Welt wir leben. Manche gesunde Menschen, die sich impfen lassen könnten, lassen sich nicht impfen, obwohl sie einen einfachen Zugang zu den lebensrettenden Mitteln haben – wovon Menschen in manch anderen Ländern, ganzen Kontinenten nur träumen können. Jetzt machen sich politisch Verantwortliche Gedanken darüber, Anreize für Nicht-Geimpfte zu schaffen, in Form von Essen, Geld oder Gutscheinen.

Natürlich, und auch das darf man nicht vergessen: Es gibt und gab Bevölkerungsgruppen, die sich wegen ihrer sozial schwachen Stellung überhaupt keine Gedanken ums Impfen machen konnten. Weil das Leben für sie auch ohne die komplizierte Organisation eines Impftermins stressig genug ist. Deshalb ist es gut, dass die Impfstoffe mancherorts niedrigschwellig und unbürokratisch angeboten werden, ohne Voranmeldung.

Aber was ist mit allen anderen? Glauben sie so sehr an ihre eigene Unverwundbarkeit? Dass ihnen schon nichts passieren wird, weil sie zum Beispiel jung und gesund sind? Was ist, wenn doch? Ein schwerer Verlauf ist nicht vorhersehbar, und er ist unaufhaltsam. Bei meinem Papa, der sehr schwer erkrankte, obwohl er keine nennenswerten Vorerkrankungen hatte, konnten seine behandelnden Ärzte nicht mal für wenige Stunden im Voraus sagen, wie sich sein Zustand entwickeln würde. Deshalb kam sein Tod so plötzlich. Auch für sie.

Medikamente, um klinisch schwere Verlaufsformen zu therapieren, gibt es kaum. Manchen helfen sie, auch das ist ein großes Glück. Nach mehreren Angriffspunkten gegen das Virus wird geforscht. Und in der Praxis wird viel improvisiert und ausprobiert. Aber auch die besten Intensivmediziner und Pflegekräfte können nur bis zu einem bestimmten Punkt helfen. Das Virus befällt in vielen schweren Fällen nicht nur die Lunge, sondern auch Herz und Blutgefäße, Nieren, das Lymphgewebe, Magen-Darm-Trakt, das Hirn und die Nerven sowie andere Organe. Eine Infektion mit Sars-CoV-2 ist manchmal eine Multiorganerkrankung. Für eine Impfung, ist es, nachdem jemand stationiert und in ein künstliches Koma versetzt werden muss, zu spät. Ich glaube, auch das ist vielen noch immer nicht bewusst.

Gesundheit ist nichts Gegebenes

Das Leben programmiert uns darauf, Dankbarkeit erst dann zu zeigen, wenn etwas Schreckliches passiert. Wer noch nie ernsthaft krank war oder noch nie erleben musste, wie ein geliebter Mensch, die Schwester, der beste Freund, krank geworden ist, der glaubt, dass Gesundheit etwas Selbstverständliches ist. Dann geschieht etwas, ein Autounfall, eine Krebserkrankung, eine schwere Corona-Infektion – es gibt ein böses Erwachen – und plötzlich wird einem bewusst, dass es auf dieser Welt nichts Wichtigeres gibt als Gesundheit. Und ich versuche, es zu verstehen, aber ich kann es nicht nachvollziehen, wie ein Mensch sich bewusst gegen eine Corona-Impfung entscheiden kann, die extrem sicher ist, die auch bei neuen Mutanten wie Delta oder Lambda effektiv vor Hospitalisierungen schützt.

Wer darauf vertraut, dass die Immunisierung der Bevölkerung zum individuellen Schutz ausreicht, der irrt. Denn dafür sind nicht genug Menschen geimpft. Dafür gibt es viel zu viele, die sich aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands, sei es wegen einer Chemotherapie oder weil sie schwanger sind, nicht impfen lassen können, obwohl sie wollen. Oder Kinder, die dem Coronavirus nun seit mehr als 18 Monaten ausgeliefert sind und für die es noch keine offizielle Impfempfehlung gibt. Was würde passieren, wenn in Deutschland heute in drei Wochen keine Impfstoffe mehr zur Verfügung stünden? Wäre die Panik, die in manchen aufkommen würde, ein Grund sich sofort impfen zu lassen? Auch darüber mache ich mir Gedanken.

Ich stehe auf der anderen Seite und wünsche keinem auf dieser Welt, das durchmachen zu müssen, was meine Familie und Tausende andere durchstehen mussten und noch immer müssen. Ich durchlebe den Moment in der Nacht des 4. Dezembers 2020, als ich in meinem Kleiderschank in meinem Schlafzimmer weinend nach schwarzer Kleidung griff, jeden Tag aufs Neue.

Ich konnte meinem Papa kein letztes Mal sagen, wie dankbar ich bin, ihn als meinen Papa gehabt zu haben. Er war alleine, als er gestorben ist. Wenige Stunden, nachdem meine Mutter gezwungen war, ihn zurückzulassen, hörte sein Herz auf zu schlagen. Ich weiß nicht, ob ich mehr über die unausgesprochenen letzten Worte, über die Einsamkeit, die sein Tod bei jedem Einzelnen von uns hinterlassen hat, über seinen Tod, der viel zu früh eingetreten ist, über die Grausamkeit seines Todes oder über seine niemals in Erfüllung gegangenen Wünsche trauere.

Sein Tod hat mich gebrochen und ein Loch in meinem Innersten hinterlassen. Mein Albtraum ist für andere vermeidbar. Bitte, ich möchte es wirklich wissen, wieso wollt ihr den Impfstoff nicht als eine Art Lebensversicherung, um euch und eure Liebsten vor einem schweren Krankheitsverlauf, vor schlimmen Spätfolgen, von der jeder zehnte Covid-Genesene betroffen ist, oder vor einen durch das Coronavirus verursachten Tod zu schützen? Glaubt ihr noch immer nicht an die Gefährlichkeit dieses verdammten Virus? Muss etwas passieren, damit ihr diese erkennt?

Ich wünschte so sehr, dass ein Impfstoff noch früher zugelassen und den Menschen verabreicht worden wäre. Dann wäre mein Papa, wie viele andere, heute vielleicht noch am Leben.

Seni çok ama çok özledim babam. Ich vermisse dich so sehr, Papa.

Ich vermisse dich, Papa.
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