Joseph Goebbels konnte an diesem 7. November 1938 zufrieden sein. Endlich hatte der Propagandaminister den Vorwand für ein Losschlagen gegen die deutschen Juden, auf den er schon länger gewartet hatte. In Paris hatte ein 17 Jahre alter jüdischer Jugendlicher in der deutschen Botschaft am Morgen dieses Tages ein Attentat auf den jungen Diplomaten Ernst vom Rath begangen und ihn mit zwei Schüssen aus seiner Pistole schwer verletzt. Das Opfer war ins Krankenhaus geschafft worden, der Täter hatte sich widerstandslos festnehmen lassen. Die Tat wurde schnell auf der ganzen Welt bekannt.

Der teuflisch raffinierte Goebbels erkannte sofort die Chance, die sich ihm mit diesem Attentat eines Juden auf einen deutschen Diplomaten im Ausland bot: Am nächsten Tag behaupteten die deutschen Zeitungen, es sei Ausdruck des Krieges, den das weltweite Judentum Deutschland erklärt habe. Vom Rath wurde als „Märtyrer der Bewegung“ gefeiert. Als er am Nachmittag des 9. Novembers starb, inszenierte Goebbels den „spontanen Volkszorn“ – überall in Deutschland zog der Nazimob auf sein Startsignal hin los, zündete Synagogen an, zerstörte Wohnungen und plünderte Geschäfte von Juden. Bis zu 1000 Juden wurden ermordet, Zehntausende in Konzentrationslager gebracht. Die Ereignisse vom Abend des 9. November 1938, die sich den ganzen folgenden Tag fortsetzten, gingen als „Reichskristallnacht“ in die Geschichte ein.
Joseph Goebbels war zufrieden, aber er hatte noch ein weiteres Ziel. Er wollte den Täter als Handlanger des „internationalen Judentums“ vor Gericht stellen. Mit großem Aufwand bereiteten die beteiligten deutschen Behörden sich auf den geplanten Prozess in Paris vor. Der junge Täter saß derweil im Jugendgefängnis Fresnes bei Paris. Sein Name war Herschel Grynszpan, er war als Sohn polnischer Juden 1921 in Hannover geboren, aber zwei Jahre vor dem Attentat zu seinem Onkel nach Paris ausgewandert, weil er in Nazideutschland keine Zukunft für sich sah.
Er war spontan auf die Idee für das Attentat gekommen, nachdem Ende Oktober die Deutschen buchstäblich über Nacht rund 17.000 polnische Juden ausgewiesen hatten. Viele der Betroffenen mussten wochenlang unter freiem Himmel bei niedrigen Temperaturen auf dem Bahnhofsgelände der kleinen polnischen Grenzstadt Zbaszyn campieren, weil die ebenfalls sehr antisemitische polnische Regierung sie nicht einreisen lassen wollte. Unter den Betroffenen waren auch Herschels Eltern sowie sein Bruder und seine Schwester. Die Nachricht über ihr Schicksal hatte ihn so wütend gemacht, dass er gegen die Politik Nazideutschlands ein Zeichen setzen wollte. So war er zur Tat geschritten.

Geplant war ein Schauprozess
Der geplante Prozess in Paris fand aber, bis im Juni 1940 die Wehrmacht die französische Hauptstadt besetzte, nicht statt. Die französischen Behörden schickten Herschel Grynszpan auf eine absurde Flucht quer durch Frankreich. Kein Gefängnis war bereit, den weltberühmten Attentäter aufzunehmen, erst im südfranzösischen Toulon fand er Unterschlupf im Gefängnis, wo er auf den Schutz der Behörden hoffte. Aber nach der französischen Kapitulation und der Bildung der deutschlandhörigen, rechten Vichy-Regierung wurde Herschel im Juli 1940 ausgeliefert und nach Berlin gebracht.
Nun war er in den Händen seiner Feinde. Und er war sich von Anfang an bewusst, was ihm drohte: das Todesurteil. Grynszpan wurde die meiste Zeit im „Prominentenblock“ des KZ Sachsenhausen inhaftiert. Propaganda-, Außen- und Justizministerium machten sich an die Arbeit: Sie wollten ihn nun in Berlin vor Gericht stellen und sie hatten Großes mit ihm vor. In einem Schauprozess, zu dem die internationale Presse eingeladen werden sollte, sollte belegt werden, dass Grynszpan ein Werkzeug des „internationalen Judentums“ sei, das gegen Deutschland einen hinterlistigen Krieg führe.
Der Prozess hatte einen sehr hohen Stellenwert für das Regime, Hitler war ständig eingebunden. Doch wie konnte ein einzelner junger Jude mitten im Krieg überhaupt eine solch große Bedeutung für die Nationalsozialisten bekommen? Das wird schnell klar, wenn man sich die Situation ab dem Sommer 1941 anschaut. Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion. Das eröffnete für die Politik gegenüber den Juden ganz neue Möglichkeiten, denn nun konnten fernab des Reiches Lager errichtet werden, in denen Juden nicht nur inhaftiert, sondern systematisch ermordet werden konnten. Ab dem Herbst 1941 wurden die ersten Vernichtungsanlagen mit Gas errichtet, andere sollten bald folgen.
Goebbels wusste, dass das nicht völlig geheim gehalten werden konnte, weder vor dem Ausland noch vor der deutschen Bevölkerung. Deshalb wollte er Grynszpan als Vertreter des verbrecherischen Judentums in einem Schauprozess vor der internationalen Presse vor Gericht stellen und so „beweisen“, dass die Vernichtung der Juden gerechtfertigt sei. Das war besonders perfide, weil meine Forschungen ergeben haben, dass Herschel sehr wahrscheinlich gar nicht vom Raths Mörder war. Dieser starb erst, nachdem Hitlers Begleitarzt Karl Brandt nach Paris gereist und am Morgen des 8. Novembers die Behandlung unter völligem Ausschluss der französischen Ärzte übernommen hatte.
Unter anderem eine spätere Äußerung Brandts sowie ein Aktenvermerk des Auswärtigen Amtes über ein Telefonat Brandts am Vormittag des 8. November mit Hitler legen nahe, dass er dem Opfer, das offensichtlich keineswegs tödlich verletzt war, die notwendige medizinische Hilfe verweigerte. Vom Raths Tod war also bewusst herbeigeführt – und Goebbels hatte seinen „Märtyrer“. Goebbels und die anderen beteiligten Ministerien gingen selbstverständlich davon aus, dass sie mit ihrem inzwischen 19-jährigen Gefangenen ein leichtes Spiel haben würden.

Ein listiger Trick: Homosexuelle Beziehung statt Judenverschwörung
Doch sie machten die Rechnung ohne den listigen und klugen Herschel Grynszpan, wie sich bald herausstellen sollte. Denn der junge Mann verfügte über einen außergewöhnlich wachen Geist und durchschaute, wie er das NS-Regime austricksen konnte. Er wandte einen Trick an, mit dem er Hitler und Goebbels am Ende eine bittere Niederlage bereitete. In seinem letzten Verhör durch Vertreter von Heinrich Himmlers Reichssicherheitshauptamt im Oktober 1941 behauptete er, er habe eine homosexuelle Beziehung zu seinem Opfer gehabt. Er behauptete, er habe sich mit vom Rath gestritten, sodass die Schüsse auf ihn eine Beziehungstat, ein Mord aus Eifersucht, gewesen seien.
Auch nach langjährigen Forschungen gibt es trotz anders lautender Gerüchte keinen einzigen Hinweis darauf, dass das der Wahrheit entsprach. Bis dahin unbekannte Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München, die ich vor einigen Jahren fand und erstmals einsah, haben auch spätere dahingehende Behauptungen als freie Erfindung belegt. Herschel Grynszpan wusste: Ein jüdischer Jugendlicher, der vor der Weltpresse behauptete, eine homosexuelle Beziehung mit einem deutschen Diplomaten eingegangen zu sein – das wäre anstatt des erhofften Propagandaerfolges äußerst peinlich für das NS-Regime gewesen.
Obwohl Goebbels einen detaillierten Ablaufplan für den Prozess erarbeiten ließ – Zeugen mussten ihre Aussage vorher absegnen lassen – und das Todesurteil schon vor dem Beginn feststand, ließ Hitler persönlich den Prozess Ende Mai 1942 auf Eis legen. Er fand am Ende niemals statt. Das war eine bittere Niederlage für den „Führer“ und seinen diabolischen Propagandaminister gegen den jungen Juden. Grynszpan blieb nach der vorläufigen Absage im KZ Sachsenhausen. Lange ging man allgemein davon aus, dass er irgendwann ermordet worden sei. Doch das wäre unlogisch, weil Hitler und Goebbels den Prozess nach dem Ende des Krieges nachholen wollten.
Tatsächlich wurde im Archiv des Jüdischen Museums in Wien vor einigen Jahren ein Foto gefunden, das ihn mit sehr großer Wahrscheinlichkeit lebend kurz nach dem Ende des Krieges zeigt. Wohin er sich danach wandte, wo er lebte und was er tat, ist trotz intensiver Recherchen bis heute unbekannt. Aber dass er den Holocaust überlebte, ist sehr wahrscheinlich – und das war der zweite Sieg des jungen Herschel Grynszpan gegen die viel mächtigeren Adolf Hitler und Joseph Goebbels.



