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„Das warme Bett“: Wie ich ägyptische Gastfreundschaft erlebte

Unsere Autorin lebte einige Jahre in Kairo. Als sie vor ihrer verschlossenen Wohnungstür steht, erfährt sie das wahre Ausmaß ägyptischer Gastfreundschaft.

Beim Fastenbrechen in Kairo.
Beim Fastenbrechen in Kairo.dpa/Ahmed Gomaa

Anfang Dezember 2022 erschien in der Berliner Zeitung der Beitrag „Kairo Calling – locker bleiben“ eines ägyptischen Autors, in dem er sich zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Kairo und Berlin äußert. Damit zusammenhängend nennt er unter anderem eine Reihe von Beispielen, die sehr anschaulich die besondere Freundlichkeit und Großzügigkeit der Ägypter gegenüber dem fremden Gast unterstreichen.

Seine Aussage „Im Allgemeinen sind wir in Kairo sehr großzügige Menschen und teilen gerne alles, was wir haben – und dazu zählt auch unsere Privatsphäre!“ brachte schlagartig eine Erinnerung aus meiner Zeit in der Stadt Kairo zurück, in der ich fast vier Jahre mit meiner Familie aufgrund der beruflichen Tätigkeit meines Mannes lebte. Das im folgenden Beitrag dargestellte Erlebnis gleich zu Beginn unseres dortigen Aufenthalts belegt sehr gut den Kern der Aussage des ägyptischen Autors.

Wenige Tage nach unserer Ankunft in Kairo wurden wir von einem deutschen Kollegen meines Mannes Wolfgang zum Abendessen zu seiner Familie eingeladen, die bereits zwei Jahre zuvor nach Kairo gekommen und mit ägyptischen Gepflogenheiten naturgemäß einigermaßen gut vertraut war. Alle freuten sich auf die Begegnung, und insbesondere war ich es, die sich Antworten zu der Menge an Fragen erhoffte, die sich zur Bewältigung der simpelsten Anforderungen an den häuslichen Alltag bereits in wenigen Tagen aufgestaut hatten. Mein Sohn Andi freute sich auf den Sohn der Familie, Michi, etwa drei Jahre älter als er und ebenso Schüler der deutschen Schule in Kairo, den er dort jedoch noch nicht kennengelernt hatte, aber nun kennenzulernen hoffte.

Die Familie wohnte nicht weit von uns, nur etwa acht Minuten Fußweg entfernt auf einer abseits vom großen Verkehrstrubel wenig befahrenen Straße, was zu unserem Entschluss beitrug, das Auto stehen zu lassen und stattdessen zu Fuß hinzugehen – bei gleichzeitig bester Gelegenheit, unsere neue Umgebung ein wenig mehr kennenzulernen. Andi war ausdrücklich mit eingeladen, er freute sich, Michi zu treffen – doch dazu kam es nicht.

Michi war aktives Mitglied einer musikalischen Veranstaltung in seiner – und nun auch Andis – Schule, zu deren geplantem weihnachtlichen Schulkonzert ausgerechnet an diesem Spätnachmittag eine Probe angesetzt war. Der Kollege hatte nichts davon erwähnt, vermutlich war er selbst bis zuletzt darüber nicht im Bilde. Andi konnte seine Enttäuschung darüber kaum kaschieren, nach dem Essen mit den Erwachsenen bat er darum, schon mal voraus nach Hause gehen zu dürfen.

Nach anfänglichem Zögern angesichts der noch neuen, unbekannten Situation, die jenseits der eigenen vertrauten vier Wände draußen im Dunkeln anzutreffen wäre, ließen wir ihn nach überzeugendem Zureden der Gastgeber doch gewähren. In Ermangelung eigener Hausschlüssel nahm er die unsrigen mit, was sich als der Startschuss für ein beispielloses, beeindruckendes Erlebnis entpuppte.

Die Gastfreundschaft kennt in Kairo fast keine Grenzen.
Die Gastfreundschaft kennt in Kairo fast keine Grenzen.AP/Amr Nabil

Unsere gastfreundliche Hausbesitzerin

Abgesehen von unserem Nachhauseweg etwa zwei Stunden später, der von einem uns nachstellenden, zwar kleinem, aber dennoch beängstigendem Rudel von zähnefletschenden Straßenhunden, die nachts durch die Stadt streifen, begleitet war, dem wir glücklicherweise auf dem kurzen Weg entkommen konnten, wurde die nachklingende Freude über den gelungenen Abend ein weiteres Mal ordentlich gedämpft: Als wir vor unserer Wohnungstüre standen, steckte unser Schlüssel in der Innentüre – und Andi schlief. Er schlief so fest, dass Klingeln und Klopfen über einen längeren Zeitraum ihn nicht wecken konnten.

Wir versuchten es immer wieder, gaben es aber angesichts des Misserfolgs schließlich auf, setzten uns auf eine Treppe vor unserer Türe und warteten – bis plötzlich die Hausbesitzerin, eine ältere Dame, die einen Stock unter uns wohnte und die wir zuvor nur kurz kennengelernt hatten, im Nachtgewand die Treppen zu uns hinaufstieg. Ihr war nicht entgangen, dass sich im Stock über ihr „etwas“ abspielte.

Ohne uns sprachlich nur im geringsten verständlich machen zu können, erschien ihr durch die Gesten von uns beiden neuen Hausbewohnern die Situation selbst schnell klar zu sein. Kurzerhand gab sie zu verstehen, dass wir ihr in ihre Wohnung nachfolgen sollten. Wir waren unschlüssig, was zu tun sei, wir zögerten, das Angebot anzunehmen, aber nach einem erneuten Versuch, Andi durch Klopfen und Klingeln aufzuwecken, gaben wir es endgültig auf, verließen das kalte Treppenhaus und folgten der älteren Dame in ihre Wohnung.

Was dann geschah, war schier unglaublich: Die Dame führte uns in ihr Schlafzimmer, schlug die blütenweiße Decke auf ihrem Bett zurück und bedeutete, dass es nun uns gehöre. Das Bett war noch warm, sie hatte zuvor darin gelegen, und nun gab es für uns keinen Weg zurück, die befremdliche, doch zugleich außergewöhnlich freundliche Geste zurückzuweisen, ohne dass es einer Beleidigung gleichgekommen wäre.

Mitnichten begeistert, doch uns innerlich dazu verpflichtet fühlend, nahmen wir das außer- und ungewöhnlich gastfreundschaftliche Angebot an. Etwa zwei, drei Stunden später stieg Wolfgang erneut die Treppen zur eigenen Wohnung hinauf, klopfte und klingelte an der Türe. Nur einen Moment dauerte es, bis er leise Geräusche hinter der Türe wahrnahm, und wenige Sekunden später drangen feine Lichtstrahlen unter dem Türrahmen hindurch nach außen. Es waren klare Signale, mein Mann atmete erleichtert auf.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.