Mitte Dezember trafen sich als Vertreter der Europäischen Allianz der Akademien 42 Mitglieder aus 19 Ländern in der Akademie der Künste in Berlin, um über Einschränkungen künstlerischer Freiheit angesichts von Krieg und Krise zu sprechen. „Die Kunst wird den Krieg nicht beenden und die Politik nicht ändern. Aber wir haben die Verantwortung, die Bücher zu lesen, die Filme zu zeigen und die Musik zur Aufführung zu bringen, die davon zeugen“, sagte die Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel. Die Allianz der Akademien setze sich über nationale Grenzen hinweg: „Wir haben weiche Grenzen, aber klare Ziele.“ An dieser Stelle dokumentieren wir den Vortrag, den die Schriftstellerin Cécile Wajsbrot gehalten hat.
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Hier sind wir also und kommen aus verschiedenen Ländern Europas – einige, die mit autoritären Regierungen zu kämpfen haben oder mit einem grausamen Krieg auf dem eigenen Territorium oder in der Nähe der eigenen Grenzen, alle, die mit einer Klimakrise, einer Energiekrise umgehen müssen oder vielmehr nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Hier sind wir alle und blicken auf das Brandenburger Tor – lange Symbol der Teilung, dann aber zum Symbol der Einheit geworden. Hier sind wir heute Abend in einem privilegierten Teil der Welt zusammengekommen, der einst der Ort war, von dem aus Tragödien nach ganz Europa getragen wurden. An diesem Ort, in der Akademie der Künste, in dieser Stadt, Berlin, wurden Worte wie „entartete Kunst“ ausgesprochen, wurden Ausschlüsse verkündet, und in dieser Stadt sind wir heute alle zusammengekommen, um über die Freiheit der Kunst zu sprechen – vielleicht ist es ein Symbol, eine Botschaft der Hoffnung …
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Ich komme aus Frankreich, einem privilegierten Land, in dem es derzeit weder echte Zensur noch Unterdrückung gibt, Freiheit gehört sogar zum Wahlspruch des Landes – ist aber ein Motto das, was tatsächlich passiert? Das ist eine andere Frage. Meine Generation und die Jüngeren bekamen das erste wirkliche Eindringen des Staates, des Gesetzes in unser Privatleben während des Corona-Lockdowns, zu spüren. Wir konnten jeden Tag für eine einzige Stunde das Haus verlassen, mit einem Blatt Papier versehen, auf dem angekreuzt werden musste, wofür wir unterwegs waren: Einkäufe, medizinische Versorgung ... Natürlich hat es auch die Anschläge auf Charlie Hebdo, die Anschläge im Bataclan gegeben. Am Tag danach – einem Samstag – waren die Straßen von Paris leer gefegt, alle waren in Schockstarre und blieben zu Hause, um die Nachrichten zu hören. Doch bereits am Sonntag hatte die Stadt ihre Angst überwunden. Seitdem hat es weitere Morde und Terroranschläge gegeben, aber – wie soll ich das formulieren? – so erschreckend diese Tatsachen auch sein mögen, lassen sie sich natürlich nicht mit einem lang anhaltenden Krieg, mit einem lang andauernden Unterdrückungsregime vergleichen. Was ich sagen will, ist, dass ich weiß, von wo ich spreche.

Ich erinnere mich, wie ich im Mai 1990 zum ersten Mal nach Polen reiste – das Land, aus dem meine Familie stammt –, nach Warschau, Krakau, dann weiter nach Budapest, Bratislava und Prag. Die Berliner Mauer war gerade gefallen, und meine Frage war, ob es so etwas wie eine mitteleuropäische Kultur gibt, ob es sie nicht mehr gibt, sie je gegeben hat? Ich hatte die Autoren, Autorinnen, die ich treffen sollte, selbstverständlich gelesen: Tadeusz Konwicki, Jarosław Marek Rymkiewicz (damals gab es die Partei Recht und Gerechtigkeit noch nicht) oder Péter Esterházy, Péter Nádas, György Petri. Ich bewunderte ihre Art, politisch zu sein, sich in literarischer Form über politische Ereignisse zu äußern, bisweilen kryptisch, um der Zensur zu entgehen.
Doch dann sagte mir jemand: Jetzt können wir endlich auch Liebesgeschichten schreiben wie in euren Ländern, genau die Liebesgeschichten also, die ich in der französischen Literatur verachtete, weil ich fand, dass französische Autorinnen und Autoren fast nie wichtige Themen wie das kollektive Gedächtnis, die Geschichte – tragische Ereignisse, die sich auch auf die nachfolgenden Generationen auswirken – behandeln. Dort und damals, in Ost- oder Mitteleuropa (wie Sie wollen), habe ich gelernt, dass das Wichtigste ist, über das zu schreiben, was man schreiben will – sei es eine Liebesgeschichte oder eine politische Dystopie – und sich niemals von irgendeiner Zensur – egal ob von außen oder von innen – den eigenen Text diktieren zu lassen.
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Zeitgeist ist ein schönes Wort, eines jener deutschen Wörter, von denen es heißt, sie ließen sich nicht in andere Sprachen übersetzen ... Spirit oft the times, air du temps – beides nah an und weit entfernt von Zeitgeist ... Ein schönes Wort, aber eine weniger schöne Sache. Zeitgeist ist unsere Umwelt, der Raum und die Zeit, in denen wir leben. In diesem Raum und in dieser Zeit zirkulieren Wörter, eine bestimmte Anzahl begrenzter Wörter, stets dieselben, immer mit derselben Bedeutung. Der Zeitgeist ist das Reich der Eindeutigkeit.
Sie kennen diese Wörter, wir hören sie den ganzen Tag im Radio, im Fernsehen, wir lesen sie jeden Tag in Zeitungen, in den sozialen Medien. Es sind Wörter wie Erderwärmung, Gas, Öl, Krieg. Namen wie Saporischschja, Cherson, Odessa. Wörter wie Folter, Winter, Bomben, Minen. Diese Wörter benutzen wir immer und immer wieder in Gesprächen mit Bekannten und tragen so ungewollt dazu bei, ihnen mehr und mehr Präsenz zu bieten. Wörter sind nicht nur Wörter, sie vermitteln Gedanken, sie erzeugen Gedanken. Während wir an unserem Tisch sitzen und versuchen, etwas zu schreiben, wenn wir schreiben, sind wir umgeben von den Stimmen des Zeitgeistes und den Wörtern, die sie aussprechen. Die Literatur ist die einzige Kunst, die mit einem alltäglichen Material, der Sprache, arbeiten muss.
Wenn wir einen literarischen Text schreiben wollen, müssen wir uns von den oberflächlichen Schichten der Sprache lösen, um Zugang zu tiefgründigeren, persönlicheren Schichten zu erhalten. Das bedeutet, sich von der Knechtschaft des Zeitgeistes zu befreien, um auf unsere persönlichen Gedanken und Gefühle zugreifen zu können – gefesselt an unseren eigenen Mast wie Odysseus, um den Gesängen der Sirenen zu widerstehen. Freiheit in der Kunst kann es nur geben, wenn man die alltäglichen Stimmen, die alltäglichen Wörter und Gedanken und Bilder zum Schweigen bringt und aus ihrem Schweigen heraus zu einer neuen Perspektive, einem einzigartigen Blickwinkel gelangt. Das lässt sich jedoch in Zeiten erdrückender Unruhen nicht umsetzen. Wenn ein solches Ereignis eintritt, können wir nur auf Autopilot umschalten, weil wir sofort reagieren müssen, als Mensch, vielleicht auch als Bürger; manchmal geht es darum, unser Leben zu retten, und selbst wenn es nicht so essenziell ist, sind wir doch zunächst gelähmt.
Unser Geist ist so leer wie die Straßen von Paris am Tag nach den Anschlägen. In diesem Moment – der Tage, Wochen oder auch Monate andauern kann – ist es unmöglich, über das Ereignis selbst zu schreiben, unmöglich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, unmöglich, einfach so zu tun, als sei nichts geschehen, eine Art Kontinuität wiederherzustellen. Etwas ist in unserem Leben und unseren Werken zerbrochen, und wir brauchen Mut, um uns einzugestehen, dass wir nicht imstande sind, zu schreiben, etwas von Wert zu erschaffen, und wir brauchen Geduld, um zu schweigen und abzuwarten. Die Worte der Literatur sind nicht dazu gedacht, die offenen Stellen eines entstehenden Buches mit den automatischen Sätzen zu füllen, die unsere Smartphones mit ihrer Autokorrekturfunktion vorschlagen. Unsere weißen Blätter müssen so lange weiß bleiben, wie es notwendig ist, um sie später mit neuen Sätzen, neuen Ideen, mit unserer eigenen Stimme als Schriftstellerinnen, als Schriftsteller füllen zu können, die sich nur fernab der Echos und Gerüchte der Nützlichkeit finden lassen.
Schweigen bedeutet jedoch nicht, passiv zu sein, es bedeutet, sich Notizen zu machen, die vielleicht die Grundlage für ein zukünftiges Buch bilden werden, Bücher zu lesen, die vor Jahren oder Jahrhunderten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern geschrieben wurden, die vergleichbare Nöte, vergleichbare Tragödien erleben und erfahren mussten – um uns zu helfen, durchzukommen und sicher auf der anderen Seite des Ereignisses zu landen.
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Jeder Künstler sucht nach neuen Formen, und die Form ist keine leere Hülle, sondern eine komplexe Verbindung zwischen dem, was gesagt wird, und dem, wie es gesagt wird. Wie Hofmannsthal einst schrieb: „Form ist vom Inhalt der Sinn, Sinn das Wesen der Form.“ Diese Suche nach einer neuen Form ist ein ständiges Ringen, um sich von Traditionen, von unseren eigenen Grenzen, von unserem inneren Gefängnis zu befreien. Eine schwer zu erlangende Freiheit, das Gegenteil vorgefertigter Denkweise oder Kunst, ein unendlicher Kampf.
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In Jafar Panahis neuem Film „No Bears“ lässt sich der Filmemacher, der nicht mehr reisen und auch keine Filme mehr drehen darf, in einem Dorf nahe der türkischen Grenze nieder, um die Dreharbeiten zu seinem eigenen Film am Computer zu verfolgen und, weil er nicht am Set sein kann, der zwar in der Nähe, aber doch in einem anderen Land liegt, sich diesem näher zu fühlen. Eines Nachts lässt er sich von seinem Regieassistent an die Grenze fahren. Er könnte auf die andere Seite gelangen – ein Schmuggler hat ihm gerade ein Zeichen gegeben –, um in die Stadt zu fahren, wo der Film gedreht wird. Auf einmal fragt er: Wo ist die Grenze? Genau hier, unter Ihren Füßen, antwortet der Regieassistent. Vor den Augen des Filmemachers funkeln die Lichter der Stadt um die dunkle Gestalt eines Sees herum. Doch er kehrt um, geht zurück zum Auto, zurück in den Iran.
Warum ist er nicht weitergegangen? Aus Angst vor dem, was mit ihm, mit seiner Familie und dem Film passieren könnte? Doch wenn wir tiefer graben und versuchen, die tieferen Schichten unterhalb der Oberfläche zu erreichen ... Die funkelnden Lichter sind verführerisch, sie scheinen Freiheit zu bedeuten. Aber sind sie vielleicht einfach nur eine Ablenkung, eine Illusion? Der Filmemacher kehrt ins Dorf zurück und dreht einen Film, ohne vor Ort zu sein, ist nur virtuell anwesend, ist auf schlechte Internetverbindungen angewiesen und muss mit ständigen Unterbrechungen durch das Dorf klarkommen – mit der täglichen Realität und ihren ständigen Zwängen. Doch diese schlechten Bedingungen schaffen eine neue Art von Film, der Fiktion und Dokumentarisches vermischt, den Gegensatz zwischen Stand- und Bewegtbild thematisiert und Bewegungslosigkeit zum Symbol für Zensur macht.
Mit anderen Worten, künstlerische Freiheit ist die Anerkennung des Hier und Jetzt, in dem wir leben, ist ein ständiger Kompromiss mit den äußeren Bedingungen, während die künstlerische Freiheit in uns lebt, in unserer Fähigkeit, uns von den täglichen Ereignissen und der Sprache und den Traditionen zu distanzieren – um unsere eigene Stimme zu finden.





