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Feminismus: Das Patriarchat ist nicht vorbei, sondern sieht nur moderner aus

Die Rolle des Heimchens am Herd müssen Frauen nicht mehr erfüllen, die Verhältnisse haben sich geändert. Alles gut, also? Unsere Autorin ist anderer Ansicht.

Woman carrying baby in arm working from home model released, Symbolfoto property released,
Woman carrying baby in arm working from home model released, Symbolfoto property released,IMAGO/Westend61

Kann man im 21. Jahrhundert noch ernsthaft vom Patriarchat reden? Sind in unseren Breitengraden Frauen nicht frei, emanzipiert, unabhängig? Welche Frau steht heute noch unter der Herrschaft eines patriarchalen Familienvaters, der seine Tochter an einen geeigneten Ehemann verheiratet? Welche Frau muss heute noch ertragen, dass ihr Ehemann verfügt, sie möge ihm Kinder gebären und abends das Essen servieren? Die Verhältnisse haben sich geändert. Dennoch sind wir nach wie vor mit etwas Patriarchalem konfrontiert.

Es scheint nur sehr viel schwerer greifbar, jetzt wo die klassischen Patriarchen mehrheitlich abgedankt haben. Meistens kommt dieses patriarchale Etwas in Krisen deutlicher zum Vorschein. Während der Pandemie wurde zum Beispiel immer wieder vor einer „Retraditionalisierung“ der Geschlechterverhältnisse gewarnt. Ganz so, als könnten die alten Patriarchen und ihre Hausfrauen uns doch wieder einholen. Doch auch wenn Frauen und insbesondere Mütter sehr viel stärker von der Pandemie belastet waren und sind, ist das kein Backlash, sondern eher die konsequente Fortführung einer Struktur, die sich vielleicht als „Neopatriarchat“ treffend beschreiben ließe.

Aus dieser Sicht haben wir in den letzten Jahrzehnten keine kontinuierliche Abschaffung des Patriarchats erlebt, sondern seine zwiespältige Transformation von einem piefigen „Wirtschaftswunderpatriarchat“ hin zu einem modernen und hippen Neopatriarchat. Was beide miteinander verbindet, ist ihre Geringschätzung der Sorgearbeit.

Die vermeintlich „natürliche weibliche Aufgabe“

Im Wirtschaftswunderpatriarchat der 1950er- und 60er-Jahre in Westdeutschland ist diese Geringschätzung der Sorgearbeit offensichtlich. Frauen wurden aus der Öffentlichkeit und der Erwerbsarbeit gedrängt, sie sollten sich – mehr oder weniger ausschließlich – um vermeintlich „natürliche weibliche Aufgaben“ kümmern und unentgeltlich Haus- und Sorgearbeit im Privaten leisten. Die Sorgearbeit wurde in dieser historischen Situation behandelt wie eine dauerverfügbare, weiblich konnotierte Ressource, die einfach da ist wie Luft und Licht und an der man sich gesellschaftlich beliebig bedienen zu können glaubt.

Möglich war das in einer spezifischen wirtschaftlichen Prosperitätsphase. Das „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre sorgte in der BRD für pralle Profite und saftige Umsätze. Das ermöglichte gute Löhne und relativen Wohlstand. Männer verdienten einen sogenannten Familienlohn, also einen Lohn, der Frauen und Kinder komplett oder zu einem sehr großen Teil mitfinanzieren konnte. Dieses Arrangement – die Ernährer-Hausfrauen-Ehe – im Wirtschaftswunderpatriarchat funktionierte aber nur, solange die Wirtschaft wuchs und die Frauen das mitmachten.

Beides war spätestens ab den 1970er-Jahren nicht mehr der Fall. Das wirtschaftliche Wachstum stagnierte. Die westdeutschen Frauen wehrten sich gegen ihre isolierte und entmündigte Existenz als Hausfrau und die selbstverständliche gesellschaftliche Nutzung ihrer reproduktiven, sexuellen und sorgenden Tätigkeiten. In dieser historischen Situation musste nachjustiert werden. Zunächst einmal gab es Schwierigkeiten mit dem Profit. Die bisherigen Möglichkeiten waren an ihre Grenzen geraten: Maschinen hatten menschliche Arbeit ersetzt, die Produktion ließ sich vielerorts nicht weiter beschleunigen, die Arbeit nicht noch mehr verdichten, Arbeitsschritte nicht noch weiter zergliedern – kurzum: Die Produktivität verlangsamte sich, die Profitrate sank, das Wachstum stagnierte.

Der Siegeszug des Doppelverdienermodells

Um das Ruder wieder herumzureißen, musste dringend mit anderen Mitteln, auf eine andere Art und Weise als bislang Wachstum ermöglicht werden. Das wurde versucht durch Maßnahmen, die wir heute „neoliberale Deregulierung“ oder „Restrukturierung“ oder auch „Prekarisierung“ nennen. Der Sozialstaat zieht sich zurück, das generelle Lohnniveau wird abgesenkt, die Macht der Gewerkschaften gebrochen, Produktionsstandorte werden in Billigländer verlagert, es wird ein großer Niedriglohnsektor etabliert. All das erzeugt jedoch auch Schwierigkeiten im Bereich der Sorgearbeit.

Der männliche Ernährerlohn ist unter diesen Bedingungen nicht haltbar. An seine Stelle tritt das Doppelverdienermodell: Beide Partner:innen sollen durch Erwerbsarbeit das Familieneinkommen sichern. So kommt es, dass Frauen nicht nur einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen und just in dieser historischen Konstellation auch darum kämpfen, lohnarbeiten gehen zu dürfen, sondern dass sie sukzessive auch arbeiten gehen müssen, weil ein Lohn nicht mehr ausreicht, um die Familie (mehr oder weniger) zu ernähren. Wenn Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen, stellt das jedoch eine Art Ressourcenabzug im Bereich der Sorgearbeit dar. Wo vorher die Vollzeithausfrau am Herd stehen sollte, steht jetzt niemand mehr. Es entsteht eine Sorgelücke.

Das Neopatriarchat hält drei Strategien parat, mit denen sich dieses Problem der Sorgelücke unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen lösen lässt: Der erste Lösungsvorschlag lautet: „Das bisschen Haushalt … Do it yourself!“ Das System übergeht die Sorgelücke achselzuckend und individualisiert das Problem kurzerhand. Frauen sollen die Erwerbs- und Sorgearbeit einfach selbstständig „vereinbaren“. Schlussendlich sollen sie diesen nicht kompensierten Ressourcenabzug im Zuge ihrer Gleichstellung individuell abfedern und ausgleichen. Sei es, indem sie versuchen, die Großeltern, Tanten, Freunde zu aktivieren, sei es, indem sie sich mit ihren Männern streiten, wer wann wie viel Erwerbs- oder Sorgearbeit übernimmt, oder sei es, indem sie einfach versuchen, ihr eigenes Leben zu managen wie einen Fabrikalltag: also alles schneller, effizienter, besser und just in time zu organisieren.

Die zweite Lösung lautet: „Kauf’s dir halt! Oder auch: Der Markt macht’s.“ Diese Lösung wirkt auf den ersten Blick wie ein Emanzipationsangebot. Die vormals unbezahlte Arbeit in den privaten Haushalten wird als öffentliche Dienstleistung und entlohnt angeboten – was will man mehr? Die Arbeit der Frauen ist jetzt nicht mehr einfach nur Liebesdienst oder Mutterinstinkt, ein echter Fortschritt!

Doch der Schein trügt auch hier. Es sind nämlich keine gemeinwohlorientierten Institutionen, sondern gewinnorientierte Unternehmen, die diese Dienstleistungen übernehmen. Selbst da, wo der Staat sie selbst anbietet, unterwirft er sie einem betriebswirtschaftlichen Spar- und Effizienzdiktat. Damit geht das Problem aber erst so richtig los, denn diese Dienstleistungen folgen einer eigenen ökonomischen Logik, die der Profitorientierung zuwiderläuft.

Sorgearbeit kann nicht ins Ausland verlagert werden

Die Ökonomin Mascha Madörin spricht in diesem Zusammenhang von „divergierenden Produktivitäten“: In wertschöpfungsstarken Sektoren wie zum Beispiel in der Automobilindustrie lässt sich die Arbeitszeit verdichten, technische Innovationen können die Produktion beschleunigen oder Personal ersetzen, Standorte können verlagert werden. All das senkt die Produktionskosten und erhöht letztlich den Profit.

Im Sorgesektor ist das nicht in gleichem Maße möglich. Diese Dienstleistungen erlauben keine Standortverlagerung ins Ausland und auch keine beliebige Ersetzbarkeit der Arbeitskräfte durch Roboter oder „digitale Serviceleistungen“. Es braucht Menschen vor Ort, die für andere Menschen da sind – zumindest wenn man den Sinn und Zweck dieser Tätigkeiten nicht beschädigen und völlig ad absurdum führen will. Auch lassen sich Arbeitsprozesse nicht in gleichem Maße standardisieren, verdichten oder beschleunigen. Eine Geburt kann sich hinziehen; die Versorgung einer alten Person kann nach einem aufregenden Besuch länger dauern, als es irgendein Durchschnittswert vorsieht; Kinder brauchen Zeit, um sich die Welt anzueignen – hier lässt sich nichts beschleunigen und rationalisieren, auch wenn das immer wieder versucht wird – eben weil man es mit Menschen und nicht mit Autoteilen zu tun hat.

Die geringeren Rationalisierungsmöglichkeiten und begrenzten Produktivitätssteigerungen führen dazu, dass die Kosten im Sorgesektor im Vergleich zu anderen Sektoren stetig zu explodieren scheinen. Um sie dennoch niedrig zu halten, spart man am Personal und an dessen Lohn. Die Konsequenzen sind bekannt: schlechte Versorgung und Verwahrlosung der Sorgebedürftigen einerseits, Überlastung, Burn-out und Armut der Sorgenden andererseits.

Die dritte Lösung schließlich lautet: „Importieren und Isolieren.“ Die Sorgelücke wird durch sogenannte „globale Betreuungsketten“ aufgefangen. Die migrantischen Hausarbeiterinnen hinterlassen dabei zugleich Sorgelücken in ihren Herkunftsländern, die dort wiederum von Frauen aus noch ärmeren Ländern kompensiert werden. Das Problem verschiebt sich so entlang des zwischenstaatlichen Armutsgefälles, und der Sorgenotstand trifft am Ende aus globaler Perspektive die Ärmsten. Die Beschäftigungsverhältnisse sogenannter Live-ins, bei denen die Sorgende permanent bei den Sorgeempfangenden wohnt, sind extrem prekarisiert und dereguliert und von Isolation, Entrechtung und Abhängigkeit geprägt.

Selbstverwirklichung bis zum Burn-out

Es ist offensichtlich, dass das Neopatriarchat mit seinen vermeintlichen Lösungen das „Problem“ der Sorgearbeit nicht wirklich bewältigt. In gewisser Hinsicht modernisiert es lediglich die Geringschätzung der Sorgearbeit. Die Geringschätzung erfolgt jetzt viel subtiler: Das Ideal ist nicht das Heimchen am Herd, die passive und fügsame Ehefrau, die sich hingebungsvoll dem bisschen Haushalt widmet. Im Gegenteil: Das Ideal heute ist die flexible, erwerbstätige, bestenfalls erfolgreiche und sich selbst verwirklichende Mutter, die das sogenannte Vereinbarkeitsproblem eigenständig bis zum Burn-out löst oder an andere Frauen in noch prekäreren Situationen delegiert.

Was im Neopatriarchat auf den ersten Blick aussieht wie ein Emanzipationsangebot, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine Verschärfung der Ausbeutung von Frauen. Das Patriarchat mit seinen herrschsüchtigen Autoritäten, die „ihre“ Frauen notfalls mit Gewalt an Heim und Herd verbannen, mag also dem Untergang geweiht sein. Dass das nicht unbedingt mit einer Befreiung der Frauen einhergehen muss, zeigen die diskreten Fallstricke des gegenwärtigen Neopatriarchats.

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